Michaelskapelle bei Schloss Dyck

Michaelskapelle? Nein, hiermit ist nicht die sich noch heute im Schloss befindende Schlosskapelle gemeint.

© Michael Salmann – Kreuz von 1809 – hier stand bis etwa 1800 die Michaelskapelle

Die Michaelskapelle gibt es auch gar nicht mehr. Wo sie früher stand, finden wir heute in unmittelbarer Nähe zu Schloss Dyck ein altes steinernes Wegkreuz. An dieser Stelle kreuzen sich heute die Landstraße 32, die von Steinforth/Rubbelrath in Richtung Damm und Nikolauskloster führt, mit dem früheren Weg vom Schloss zum Nikolauskloster. Hier am ehemaligen Eingang zur alten Kastanienallee steht das Wegekreuz. Meist unbeachtet verbergen sich hinter diesem Ort jedoch einige interessante geschichtliche Details.

Betrachtet man das Kreuz genauer, liest man als Inschrift “Constantia, comitissa in Salm-Dyck, hanc crucem posuit anno 1809”. Übersetzt heißt dies „Constantia, Gräfin von Salm-Dyck, errichtet dieses Kreuz im Jahr 1809“.[1]

Constance Marie zu Salm-Reifferscheidt-Dyck, 1767 als Constance de Théis im französischen Nantes geboren und 1845 in Paris verstorben, war eine französische Dichterin und Schriftstellerin. Während ihrer ersten Ehe (1789-1802) hieß sie Constance de Pipelet, durch ihre zweite Ehe mit Graf Joseph 1803 Gräfin, seit 1816 Fürstin zu Salm-Reifferscheidt-Dyck.[2]

Der Grund für die Errichtung des Kreuzes ist nicht bekannt. Möglicherweise war das Wegekreuz als Ersatz gedacht. Denn bis dahin hatte an dieser Stelle eine Kapelle gestanden, die sogenannte Michaelskapelle.[3]

1645 hatte Ernst Salentin von Salm-Reifferscheidt-Dyck die Herrschaft Dyck übernommen. Unter ihm begann noch in der Endphase des 30-jährigen Krieges eine eifrige Bautätigkeit. So entstanden unter anderem 1647 eine neue Scheune, 1650 eine neue Reitbahn, 1653 ein neuer Reitstall, eine Wachstube und ein Bräuhaus, von 1656 bis 1667 das Herrenhaus und von 1656 bis 1657 die Michaelskapelle.[4] Es wird berichtet, dass Ernst Salentin „frommen Sinnes vor dem Schlosse bei den 7 Bäumen die ansehnliche Michaels-Kapelle errichten ließ“.[5] Erst am 3. Februar 1680 wurde die erste heilige Messe in der Kapelle gefeiert. Die Kapelle erhielt reiche Stiftungen, wie u. a. alle Renten der Sebastianusbruderschaft oder die Renten der „ruinierten“ Kapelle in Neuenhoven. Die in der Herrschaft Dyck ausgestellten Testamente waren ungültig, wenn nicht gleichzeitig eine finanzielle Zuwendung an die Kapelle erfolgte.[6]

Über 140 Jahre wurde die Kapelle durch die Herrschaft Dyck begünstigt. Graf Joseph, später Fürst Joseph, der ein angesehener Botaniker war und den Park von Schloss Dyck und die berühmte Kastanienallee anlegte, beantragte 1795, die Michaelskapelle wegen Baufälligkeit abzubrechen.[7] Nach Angaben des Heimatforschers Jakob Bremer wurde die Kapelle vom 20. bis 22. Februar 1800 niedergelegt. Josephs damalige kritische Einstellung zur Religion war stark durch den Zeitgeist der Aufklärung und die Französische Revolution beeinflusst. Es heißt, dass Fürst Joseph sowohl die Michaelskapelle als auch die Fußfälle (Wegekreuze bzw. Kreuzwegstationen) im Geiste der französischen Säkularisierung zuerst verkommen[8] und 1802 wohl auch die meisten der sieben Fußfälle entfernen ließ. Diese wurden offenbar durch Linden mit angehefteten Kreuzen ersetzt.[9] Warum in Bedburdyck und Stessen jedoch insgesamt drei Fußfälle erhalten blieben, ist nicht bekannt.

Die Kapelle war früher auch Station einer durch das Dycker Ländchen führenden Bittprozession. In der Woche des Festes Christi Himmelfahrt fanden traditionell die meisten Bittprozessionen statt.[10] Eine Prozession führte morgens kurz nach 4 Uhr von Bedburdyck aus, über Stessen am Dycker Hahnerhof vorbei nach Neuenhoven. Dort wurde eine heilige Messe gefeiert. Nach der Einnahme eines kleinen Frühstücks zog man weiter über die Alte Landstraße, die sogenannte Brabanter Heerstraße, bis zum 1667 errichteten Schlicher Fußfall[11] und weiter zur Michaelskapelle. An der Michaelskapelle wurde erneut eine Messe durch einen der Patres des Nikolausklosters zelebriert.[12] Hier erreichte die Prozession, so ein historischer Bericht, ihren Höhepunkt. Die in der Nähe aufgefahrenen 12 Kanonen des Schlosses donnerten durch zwölf Schüsse dem Heiland in der Prozession ihren Salut entgegen, während gleichzeitig die Glocken des Nikolausklosters feierlich läuteten. Nach dem sakramentalen Segen zog die Prozession weiter über Damm, am Fußfall an der Dycker Windmühle vorbei, der vom Pächter des nahegelegenen Becherhofes festlich geschmückt wurde, zurück nach Bedburdyck.

Nach Abriss der Michaelskapelle um 1800 trat im Jahr 1812 der Bedburdycker Katharinenaltar der gleichnamigen Vikarie an die rechtliche Stelle der Kapelle. Dieser Vikarie wurden Eigentum, Pacht oder Abgaben zugeordnet, aus deren Einkünften die Bezahlung des jeweiligen Vikars und der Unterhalt des Altars bestritten wurden. Zwischen dem Kirchenvorstand von Bedburdyck und dem Grafenhaus wurde eine Vereinbarung getroffen, dass die zum Altar gehörigen Erbpächte als Eigentum des altgräflichen Hauses Salm-Reifferscheidt-Dyck anerkannt werden. Faktisch waren die Inhaber der Katharinenvikarie die Schlosskapläne von Dyck, was aber dazu führte, dass die Vikare ihre Tätigkeit in der Pfarrkirche häufig zugunsten der Tätigkeit bei Hofe vernachlässigten. Ab 1878 übernahm dann wieder die Bedburdycker Pfarrgeistlichkeit das Feiern der Gottesdienste in der Schlosskapelle. Später übernahmen die Patres vom Nikolauskloster den Messdienst in der Schlosskapelle.[13]

Michael Salmann für den Geschichtsverein Grevenbroich, 2023

[1] https://www.historicum-estudies.net/epublished/netzbiographie/franzoesische-zeit/monumente/ (1.5.2020, 21.00 Uhr)

[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Constance_zu_Salm-Reifferscheidt-Dyck (28.4.2023, 20.04 Uhr)

[3] Bremer, Die reichsunmittelbare Herrschaft Dyck, 1959, S. 532

[4] Bremer, Die reichsunmittelbare Herrschaft Dyck, 1959, S. 181

[5] Bremer, Die reichsunmittelbare Herrschaft Dyck, 1959, S. 73

[6] Bremer, Die reichsunmittelbare Herrschaft Dyck, 1959, S. 530

[7] Bremer, Die reichsunmittelbare Herrschaft Dyck, 1959, S. 532

[8] Bremer, Die reichsunmittelbare Herrschaft Dyck, 1959, S. 531f.

[9] https://www.historicum-estudies.net/epublished/netzbiographie/franzoesische-zeit/monumente/ (15.5.2020, 21.43 Uhr)

[10] https://de.wikipedia.org/wiki/Bittprozession (1.5.2020, 21.04 Uhr)

[11] Archiv im Rhein-Kreis Neuss, S 029 / Vellrather Hof (Hemmerden), Nr. 048; https://www.archive.nrw.de/archivsuche (19.6.2022, 15.21 Uhr)

[12] Bremer, Die reichsunmittelbare Herrschaft Dyck, 1959, S. 181 u. S. 529

[13] Clancett/Funke, Festschrift zum 40-jährigen Bestehen der Heilig-Geist-Kapelle zu Aldenhoven, 1998

Was geschah am 14. Juni 1959 auf dem Grevenbroicher Marktplatz?

© Stefan Faßbender – Grevenbroicher Marktplatz am 14. Juni 1959
© Stefan Faßbender – Grevenbroicher Marktplatz am 14. Juni 1959

Landete dort ein Flieger?

Oder stürzte ein Flieger gar ab?

Fragen, die sich der Autor spontan bei der Sichtung von altem Super-8-Film-Material seines Großvaters stellte. Zum Glück ist dergleichen nicht passiert. Es handelte sich lediglich um eine Segelflieger-Taufe, wie die genaue Betrachtung des Filmausschnittes ergab.

Da in dem Film auch das Datum genannt war, konnten mit Hilfe des „Archiv im Rhein-Kreis Neuss“ in Zons, welches eine hervorragende Zeitungssammlung besitzt, die entsprechenden Veröffentlichungen schnell gefunden werden.

© Archiv im Rhein-Kreis Neuss – Sammlung NGZ vom 15. Juni 1959

Danach wurde ein Segelflugzeug vom Typ „Rhönlerche“ seiner Bestimmung übergeben. Der im Jahr 1957 gegründete Luftsportverein „Erftland“ ehrte damit den bekannten Grevenbroicher Luftsportförderer Theodor Vinken (*1893 in Mönchengladbach, †1935 in Grevenbroich). Mit einer symbolischen Enthüllung durch seine Ehefrau Theresia (geb. Linnartz) erhielt der Segelflieger den Namen „Theo Vinken Grevenbroich I“. Der damalige Luftsportverein „Erftland“ findet sich heute im Aero-Club Grevenbroich e. V. wieder.

© Archiv im Rhein-Kreis Neuss – Sammlung NGZ vom 16. Juni 1959

Auch wenn die NGZ von einer kleinen Feier spricht, dürfte eine Vielzahl von Grevenbroicher Bürgerinnen und Bürgern zu dem Ereignis anwesend gewesen sein, wie in dem Filmausschnitt zu sehen ist. Daneben sind auch das Haus Portz und die Bebauung am heutigen Standort des Bürgerbüros sehr gut zu erkennen. Vielleicht finden sich auch einzelne Personen oder Familien auf dem Film am Ende dieses Beitrages wieder. Auf jeden Fall wünsche ich viel Spaß bei der Zeitreise zurück in das Jahr 1959. Eine vollständige Zuordnung der einzelnen Festredner, konnte bisher nicht vorgenommen werden, da dem Autor vergleichbares Bildmaterial derzeit nicht vorliegt. Das Stadtarchiv Grevenbroich, der Geschichtsverein Grevenbroich und der Autor würden sich aber sehr über Rückmeldungen freuen.

Daher: Wer waren diese Personen?

© Stefan Faßbender – Wer war Redner Nr. 1?
© Stefan Faßbender – Wer war Redner Nr. 2?
© Stefan Faßbender – Wer war Redner Nr. 3?
© Stefan Faßbender – Wer war Redner Nr. 4?
© Stefan Faßbender – Wer war Redner Nr. 5?

Leider ist der Film ohne Ton, aber zumindest in Farbe.

© Stefan Faßbender – Filmsammlung 1959

Stefan Faßbender für den Geschichtsverein Grevenbroich, 2023

Allrather Tanzvergnügen im August 1945

© StA Grevenbroich, Bestand Wevelinghoven, Nr. 2106

Eigentlich sollte das hier gezeigte Fundstück aus dem Stadtarchiv Grevenbroich bei den Lesern nur ein Lächeln und Schmunzeln hervorrufen, da es den Konflikt darstellt, der auch heute noch oft zwischen Jugendlichen (die ihre Freiheit und Erfahrungen suchen) und Erwachsenen (die kein Verständnis für diese Lebensweise haben) besteht.

Nach mehrmaligem Lesen traten jedoch Zweifel, Unbehagen und eine gewisse Art Nachdenklichkeit zu Tage, so dass sich der Geschichtsverein Grevenbroich dazu entschloss, gerade dieses Schriftstück auch ein wenig kritischer zu betrachten, ohne dabei Personen oder insbesondere die Lehrerschaft angreifen zu wollen.

Die von Schulrat Leines (vor 1945 Lehrer in Sinsteden; vgl. Schulchronik Elfgen, Nr. 218, Seite 250) beschriebenen „halbwüchsigen Burschen und Mädchen“ dürften im Jahr 1945 vermutlich 15 bis 16 Jahre alt gewesen sein. Die meisten Schüler verließen in jener Zeit die Volksschule bereits mit 14 Jahren. Bis zu diesem Zeitpunkt kannten sie das Leben nur unter der Diktatur des NS-Regimes. Ebenso war ihre Jugend von den schrecklichen Ereignissen des Krieges bestimmt. Vermutlich hatten viele auch einen persönlichen Verlust durch den Tod des Soldatenvaters oder durch Bombenangriffe erlitten.

Gerade im Hinblick auf die ideologische Ausrichtung von großen Teilen der Lehrerschaft während der NS-Zeit stellt sich für den Geschichtsverein Grevenbroich daher die Frage, ob der damalige Schulrat Leines eigentlich in der „Position“ war, so über die jungen Menschen zu urteilen. Waren es nicht auch Lehrer, städtische bzw. politische Amtsträger sowie Millionen von sogenannten „Mitläufern“, die dieses NS-System unterstützten und förderten? Und in welcher Weise hätten sich die Halbwüchsigen angesichts ihres Alters „schuldig“ gemacht haben können. Ein Zusammenhang zu den hunderttausenden Soldaten in Gefangenschaft oder den Millionen vertriebenen Menschen aus den Ostgebieten ist sicherlich an anderer Stelle zu suchen.

Viele Untersuchungen und Veröffentlichungen verdeutlichen heute, dass eine Vielzahl der Lehrer und Lehrerinnen bei der Indoktrinierung der Schülerschaft involviert war. Durch das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 mussten jüdische, pazifistische, sozialistische und kommunistische Lehrerinnen und Lehrer ihren Beruf aufgeben. In der Folgezeit traten 97% der Lehrerschaft dem NSLB (Nationalsozialistischen Lehrerbund) bei. Eine große Anzahl von Lehrerinnen und Lehrern wurde sogar Mitglied in der NSDAP.

In einem Interview mit Saskia Müller (Mitautorin von „Die ideologische Ausrichtung der Lehrerkräfte 1933 – 1945“ aus dem Jahr 2016) heißt es: „Die große Mehrheit der Lehrkräfte hatte eine enge Bindung an den Staat. Bereits in den 70er- und 80er-Jahren wurde festgestellt, dass diese Berufsgruppe nicht aufgrund von Arglosigkeit und Verführung zum NS überlief, sondern weil sie mehrheitlich das Interesse teilte, mit den Nazis einen starken Staat zu errichten.“[1] 

Inwieweit es auch viele Lehrerinnen und Lehrer gab, die diese Haltung nicht teilten und – wenn auch „versteckt“ – Widerstand gegen das NS-Regime leisteten, ist leider bisher nicht erforscht. Hierzu noch ein Auszug aus dem gleichen Interview:

„Niemand musste Mitglied im Nationalsozialistischen Lehrerbund (NSLB) werden. Welche Formen des Widerstands oder der Verweigerung waren Lehrkräften möglich, die sich nicht im NSLB organisierten?

Saskia Müller: Es gab abweichendes Verhalten und Widerstand Einzelner im Alltag. 1937 waren nur 3 Prozent der Lehrkräfte nicht Mitglied im NSLB. Es ist nicht erforscht, ob einzelne oppositionelle Lehrkräfte trotzdem eine NSLB-Mitgliedschaft besaßen. Im Alltag boykottierten sie Vorschriften, wehrten sich gegen ideologische Schulungen und gegen die rassistische und antisemitische Durchdringung des Schulwesens. Sie schützten jüdische Schülerinnen und Schüler, unterstützten oppositionelle Jugendliche oder zeigten sich solidarisch mit verfolgten Kolleginnen und Kollegen. Lutz van Dijk kam in seiner Untersuchung von Biografien oppositioneller Lehrkräfte auf zwei Aspekte, die die befragten Personen – im Gegensatz zu vielen anderen – gemein hatten: Fähigkeit zur Empathie und Verantwortungsübernahme für das eigene Handeln trotz möglicher persönlicher Nachteile.“[2]

Das seit vier Jahrzehnten sehr umstrittene, oft auch fehlinterpretierte bzw. missbrauchte Zitat „Gnade der späten Geburt“ spiegelt sich genau in diesem Beitrag wider. Der Geschichtsverein Grevenbroich vertritt die Ansicht, dass diese Kinder keine Schuld auf sich geladen haben. Dies schließt jedoch nicht aus, dass sie Verantwortung dafür übernehmen sollten bzw. müssen, dass von deutschem Boden solche Gewaltverbrechen niemals mehr ausgehen dürfen. Viele Grevenbroicher Schüler und Schülerinnen zeigen eben dies in unzähligen Projekten zur NS-Zeit, ohne dabei etwas zu verharmlosen oder geschönt darzustellen. „Erinnerungskultur zu pflegen und zu fördern, darf nicht bedeuten sich schuldig zu fühlen bzw. die Schuld auf sich zu nehmen.“

Stefan Faßbender für den Geschichtsverein Grevenbroich, 2023

[1]              https://www.gew-bayern.de/aktuelles/detailseite/lehrkraefte-im-nationalsozialismus; Abruf am 8. Juni 2023 um 14:50 Uhr

[2]              https://www.gew-bayern.de/aktuelles/detailseite/lehrkraefte-im-nationalsozialismus, Abruf am 8. Juni 2023 um 15.03 Uhr

Wir waren mal französische Staatsbürger!

Napoleons Herrschaft 1794 – 1814

Die geschichtlichen Vorgänge

Kaum ein anderes Ereignis hat die Geschichte auch unserer Gegend so nachhaltig geprägt wie die Französische Revolution von 1789. Die anschließende, von 1794 bis 1814 erfolgte Besetzung der linksrheinischen Gebiete durch das napoleonische Frankreich hat gravierende Veränderungen mit sich gebracht.

Gemeinfreies Bild von WikiImages auf Pixabay; Abruf am 11.09.2023 um 16.56 Uhr – Napoleon Bonaparte

Nach mehreren siegreichen Schlachten im seit 1792 andauernden 1. Koalitionskrieg der Franzosen gegen einen europäischen Staatenverbund mit u. a. Österreich und Preußen annektierte die französische Armee im Oktober 1794 die Gebiete links des Rheins. Ohne Rücksicht auf die politischen Grenzen wurde 1798 dieses Gebiet in vier Départements (Bezirke) eingeteilt: Roer (Rur), Saare (Saar), Rhin-et-Moselle (Rhein-Mosel) und Mont-Tonnerre (Donnersberg) mit den jeweiligen Hauptorten Aachen, Trier, Koblenz und Mainz. 1801 wurden die eroberten Gebiete völkerrechtlich von Frankreich einverleibt und die Einwohner waren damit plötzlich französische Staatsbürger. Die knapp 20 Jahre andauernde Zugehörigkeit des linken Rheinufers zu Frankreich erst als besetztes Gebiet, dann als Teil der Republik Frankreich und ab 1804 des Kaiserreichs von Napoleon veränderte auch unsere Grevenbroicher Welt grundlegend entsprechend der französischen Verwaltungsstruktur. Die Départements bestanden aus mehreren Kantonen und diese beinhalteten die Mairien (Bürgermeistereien).

Wie alle anderen bis dahin bestehenden Ämter wurde auch das Amt Grevenbroich aufgelöst. Die seit Jahrhunderten bestehende politische Einheit der Stadt Grevenbroich mit den Landgemeinden Allrath, Barrenstein und Neuenhausen wurde jetzt auf französisch „Mairie“ (Bürgermeisterei) genannt und existierte nur auf unterer Ebene weiter. Die nächsthöhere Ebene ging wegen ihrer verkehrsgünstigen Lage am Schnittpunkt der Straßen Köln – Venlo – Neuss – Jülich an Elsen, das damit Hauptort des neu eingerichteten Kantons Elsen wurde. Innerhalb der neuen Gebietsstrukturen hieß z. B. Allrath nun „Aldenrath“, Mairie de Grevenbroich, Canton d’Elsen, Département de la Roer (= Regierungsbezirk Rur) mit Hauptsitz in Aachen. Nach einem Bericht des Grevenbroicher Stadthistorikers J. H. Dickers wurden bei den Umstrukturierungen die Städte von „der eingesetzten französischen Regierung mit der äußersten Missachtung behandelt“.

Nachfolgend einige Urkundenbeispiele aus dem Grevenbroicher Stadtarchiv, die neben den Veränderungen auch die Zeitrechnung nach dem französischen Revolutionskalender aufzeigen. Der französische Revolutionskalender galt von 1792 bis 1805 und hatte 12 Monate zu 30 Tagen mit jeweils 3 Dekaden von 10 Tagen.

Einer chaotischen Anfangs- und Übergangszeit folgte erst 1800 eine Kommunalreform Napoleons, die wieder eine gewisse Ordnung herstellte. Dabei wurden auch erstmalig Volkszählungen durchgeführt. Grevenbroich hatte danach im Jahr 1801 nur 518 Einwohner und war damit kleiner als manches Dorf in der Umgebung. Einige Jahre später, schon in preußischer Zeit des Jahres 1816, zählte Allrath 597 Einwohner, während in Grevenbroich nur 574 Einwohner lebten.

Die durch Tranchot und von Müffling von 1801 – 1828 durchgeführten exakten Landvermessungen ergeben durch die dabei erstellten Kartenaufnahmen der Rheinlande (die sog. Tranchotkarten) ein genaues Bild. Unsere Gegend wurde mit den Karten 59 und 60 in den Jahren 1807/08 erfasst.

Die 1794 erfolgte französische Eroberung und Herrschaft Napoleons brachte ab 1799 in den Verwaltungsbereichen der linksrheinischen Gebiete einen gewaltigen Modernisierungsschub von bis dahin nicht gekannten Ausmaßen mit sich. Noch heute wirkt sich dies zusammen mit den nachfolgenden Einflüssen der preußischen Zeit ab 1815 in vielen Bereichen aus.

Die französische Sprache

Nach der Errichtung des Roer-Départements 1798 schrieb der französische Justizminister: „Der erste Schritt, um dieses Land der Sklaverei seiner alten Einrichtungen zu entreißen, wird die Förderung der französischen Sprache sein.“ So wurden von der Zivilverwaltung der Ersten Französischen Republik die ersten Standesämter in Deutschland im linksrheinischen Gebiet eingerichtet, die alle Urkunden in französischer Sprache ausstellten. Die Geburtsurkunde hieß „Acte de naissance“, bei der Heirat gab es die „Acte de marriage“ und die Sterbeurkunde war die „Acte de décès“. Die Familiennamen wurden beibehalten, die Vornamen jedoch französisch übersetzt. Und so wurde aus dem Johann ein Jean (bis heute noch Schäng), aus Friedrich wurde „Frédéric“ und aus Heinrich „Henri“, während die Maria Katherina nun „Marie Catherine“ hieß. Auch die Berufsbezeichnungen wurden übersetzt. So wurde aus dem braven Ackerer ein „agriculteur“ oder „cultivateur“, der Tagelöhner war ein „journalier“. Aus Untertanen wurden so verwaltete Bürger. Eingefügt ist die Geburtsurkunde des Urgroßvaters des Verfassers, Jean (Johann) Eßer.

 

© Sammlung Rolf Esser

Die Notare waren „notaire imperial“, also kaiserlich, ihre Urkunden wurden z. B. 1809 eingeleitet mit: „Napoleon, par la grace de Dieu et les constitutions de l’Empire, Empereur des Francais et Roi d’Italie“, 1812 zusätzlich noch mit “Protecteur de la Confédération de Rhin et Médiateur de la Confédération Suisse“ versehen, zu übersetzen mit „Napoleon, durch Gottes Gnade und die Verfassung des Kaiserreichs, Kaiser der Franzosen und König von Italien, Beschützer des Rheinbundes und Vermittler des Schweizer Bundes“. Ein mächtiger Mann und Selbstdarsteller, der da über unsere Vorfahren herrschte, und der das auch nach außen zu dokumentieren wusste.

Man stelle sich vor, was dies für die einfache Bevölkerung bedeutete. Es hat aber offensichtlich funktioniert, wie einem Reisebericht von 1813/14 des Barons de Ladoucette, dem Präfekten des Roer-Departements, zu entnehmen ist. Diese Reise führte ihn auch durch Grevenbroich. Er spricht in seinem Reisebericht von der schnellen Verbreitung der französischen Sprache vor allem durch die Vorgaben bei Gesetzen, Urteilen und Urkunden sowie im geschäftlichen und militärischen Bereich. Weiter: „Ich war überrascht und angetan, als ich während meiner Reisen in den Dörfern nach dem Wege fragte und die Kinder sich die größte Mühe gaben, ihn mir in Französisch zu erklären.“ Über ihre Freude daran ist allerdings genauso wenig bekannt wie über die Qualität des Französischen. Auf diese Weise wurden nach und nach auch französische Begriffe in den Alltagssprachgebrauch übernommen. Man wusste, dass die Landstraße nun „chaussee“ hieß und der Schirm „parapluie“. Zum Einkaufen nahm man das „portemonnaie“ mit statt der bis dahin üblichen Geldbörse. Ein Fläschchen Kölnisch Wasser war zum „Eau de Cologne“ geworden und vom Nachbarn verabschiedete man sich nun mit „à dieu“ (Adieu), was „mit Gott“ bedeutete. Davon zeugt noch bis heute ganz einfach unser rheinisches „tschö“ oder das noch saloppere „tschüss“. Viele andere französische Worte haben sich – teilweise ohne dass wir es noch wissen – bis heute erhalten oder sogar alte deutsche Begriffe ersetzt.

Kirchen, Klöster, Säkularisation

Auch die alte kirchliche Ordnung wurde 1802/1803 mit der Säkularisation beseitigt: Köln verlor zugunsten von Aachen seinen Bischofssitz, an Stelle der Dekanate traten die Kantone. Die örtlichen Kirchen waren nur noch Hilfspfarreien, die der Aufsicht des Pfarrers im Kantonsort unterstanden, in unserem Falle also Elsen.

Die Franzosen gingen noch weiter, indem sie die Überführung von Kirchengütern in staatlichen Besitz anordneten und auch vollzogen. Davon betroffen waren im hiesigen Bereich das Kloster Welchenberg, das Wilhelmitenkloster in Grevenbroich und das Kloster Langwaden, die 1802 aufgehoben und mit den sich darin befindenden Kirchenschätzen veräußert wurden. Auf diese Weise gelangten die Kanzel von Kloster Langwaden und der Altar aus der Klosterkirche in Grevenbroich in die erst kurz zuvor (1792) in Allrath neu erbaute Kirche.

Kriege bis zum Untergang

Die ständigen napoleonischen Kriege und Auseinandersetzungen an fast allen Fronten forderten auch in unserer Region viele Menschenleben. Das Rheinland wurde neben seiner wirtschaftlichen Bedeutung auch gebraucht, um den Franzosen den Nachschub an Soldaten zu sichern. So blieb z. B. unser „Departement de la Roer“ bei der Rekrutierung nicht verschont, als Napoleon 1812 seine „Grande Armee“ für den Russlandfeldzug zusammenstellte. 200.000 der 650.000 Mann stammten allein aus dem Rheinland. Bei diesem Kriegszug bis vor die Tore Moskaus starben über 95 % der Truppen. Napoleon kam geschlagen und nach ungeheuren Verlusten mit nur ca. 10.000 Mann nach Paris zurück.

Durch diese Niederlage war auch der Untergang Napoleons und seines Kaiserreichs eingeläutet. Mit dem Abzug der letzten Truppen im Januar 1814 und der Unterzeichnung des Friedens von Paris im Mai 1814 endete nach fast 20 Jahren die französische Herrschaft im Rheinland. Frankreich wurde zur Rückkehr in die Grenzen von 1792 gezwungen. Auf dem Wiener Kongress 1815 wurde das gesamte Rheinland Preußen zugesprochen und wir Rheinländer für längere Zeit preußische Staatsbürger.

Rolf Esser für den Geschichtsverein Grevenbroich, 2023

„Großbrände“ bei Familie Faßbender und Fa. Walraf

StA Grevenbroich, Brandunfälle, Sig. 461, Seite 268

Heute möchte euch der Geschichtsverein Grevenbroich zwei Zufallsfunde vorstellen, die bei Recherchen zu einem ganz anderen Unglücksfall gefunden wurden. Auch als langjähriger Familien- und Heimatforscher stößt man immer wieder auf Überraschungen, die man niemals erwartet hätte. Ob beide Brände tatsächlich durch besondere Umstände oder durch Personen verursacht wurden, kann nach mehr als 100 Jahren nicht mehr beurteilt werden.

Fall 1 im Jahr 1917 bei Familie Faßbender:

„Grevenbroich, 3. August 1917. Es erscheint die Ehefrau Johann Faßbender von hier – Lindenstr. 87 – und erklärt: Am 26. Juni ds. Js. sind mir 2 Feder-Kissen, 1 Feder-Unterbett, 2 Matratzen und 2 Betttücher, sowie eine Kinderhose verbrannt bzw. beschädigt. Der Schaden beträgt etwa 170 M. Über die Entstehungsursache des Brandes kann ich nichts angeben. Streichhölzer waren vorher nicht angezündet worden, auch kein Feuer im Ofen. Mein Sohn Wilhelm – 5 Jahre – lag bereits im Bett, im Schlafzimmer waren Streichhölzer nicht vorhanden. Möglich ist, daß von einem vorbeifahrenden Zuge glühende Asche in das Zimmer geflogen ist, wir wohnen nämlich gleich an der Bahnstrecke.“

StA Grevenbroich, Brandunfälle, Sig. 461, Seite 229

Erst nach mehrmaligem Lesen fielen mir die besonderen Betonungen auf, dass

  • vorher keine Streichhölzer angezündet worden waren,
  • auch kein Feuer im Ofen,
  • der 5-jährige Wilhelm bereits im Bett lag,
  • keine Streichhölzer im Schlafzimmer lagen,
  • glühende Asche durch einen vorbeifahrenden Zug in das Zimmer geflogen ist.

Hierzu sollte man wissen, dass die kürzeste Entfernung von der Bahnstrecke zu dem Haus mindestens 60 Meter beträgt. Des Weiteren dürfte man wohl davon ausgehen, dass die Fensterläden mit Sicherheit geschlossen waren, wenn der 5-jährige Wilhelm bereits im Bett war. Für mich als Familienforscher stellt sich damit die Frage, ob der damals Fünfjährige vielleicht mit Streichhölzern gezündelt und dabei den Brand verursacht hat. Für die Familie war der Verlust der Schlafzimmereinrichtung gerade im Jahr 1917 sicherlich ein sehr großer Verlust, da ja noch der 1. Weltkrieg in Europa „tobte“ und Waren jeglicher Art nur schwer zu beschaffen waren. Von der Versicherung erhielt die Familie eine Entschädigung in Höhe von 90 M.

StA Grevenbroich, Brandunfälle, Sig. 461, Seite 231

Fall 2 im Jahr 1920 bei der Fa. Walraf:

Am 22. Juni 1920 bedankte sich Anton Walraf über das Bürgermeisteramt bei den Kräften der Schutzmannschaften (direkter Vorläufer der heutigen Schutzpolizei), die die Ordnung aufrechthielten und eine sachgemäße Absperrung durchführten.

StA Grevenbroich, Brandunfälle, Sig. 461, Seite 268

Innerhalb von zwei Tagen ereigneten sich zwei Großbrände in der Baumwollspinnerei, die in den nachfolgenden Berichten ausführlich beschrieben wurden und einen Schaden zwischen 500.000 und 1.000.000 M. verursachten.

StA Grevenbroich, Brandunfälle, Sig. 461, Seite 271_a
StA Grevenbroich, Brandunfälle, Sig. 461, Seite 271_b
StA Grevenbroich, Brandunfälle, Sig. 461, Seite 272

Wie man sieht, können Besuche im Stadtarchiv Grevenbroich durchaus interessant und aufregend sein. Das Archiv birgt eine unzählige Menge an „Schätzen“, die sowohl für die eigene Familien- als auch für die Heimatforschung bedeutsam sein können. Daher können wir nur empfehlen, die Möglichkeiten unseres hervorragenden Stadtarchivs Grevenbroich oder des Archives im Rhein-Kreis Neuss in Zons zu nutzen.

Informationen über die beiden Archive sowie deren Bestände sind unter folgenden Links zu finden:

https://www.archive.nrw.de/stadtarchiv-grevenbroich

https://archiv-im-rhein-kreis-neuss.de/

Stefan Faßbender für den Geschichtsverein Grevenbroich, 2023

Die „Marie-Juchacz-Straße“ in Grevenbroich

Seid ihr auch schon mal durch euer Viertel gelaufen und habt überlegt, wer wohl der Namensgeber der ein oder anderen Straßenbezeichnung war? So ging es mir über Monate hinweg, bis ich den Namen einmal recherchierte und feststellte, dass hinter dem Namen eine sehr bewundernswerte Persönlichkeit steht.

Sammlung Stefan Faßbender

Bei der Marie-Juchacz-Straße handelt es sich um eine kurze Stichstraße, die sich am äußeren Ende der Lindenstraße in der Grevenbroicher Stadtmitte befindet.

Quelle: https://www.tim-online.nrw.de/tim-online2/
© Stefan Faßbender – Blick in die Marie-Juchacz-Straße im August 2023

Marie Louise wurde am 15. März 1879 als Kind des Zimmermeisters Friedrich Theodor Gohlke und der Wilhelmine Henriette Heinrich in Landsberg an der Warthe geboren. Am 6. April 1901 heiratete sie den Schneider Bernhard Juchacz, von dem sie jedoch am 27. Mai 1911 durch das Landgericht Magdeburg geschieden wurde.

Quelle: www.ancestry.de; Heiratsregister Landsberg a. d. Warthe, Abruf 11. April 2023 um 16.13 Uhr

Schon Anfang der 1900er Jahre engagierte sich Marie Juchacz in sogenannten Bildungsvereinen, die den Sozialdemokratinnen als Tarnung ihrer politischen Organisationen dienten. Für Frauen war die Teilnahme an politischen Vereinen durch das Preußische Vereinsgesetz bis 1908 verboten. Erst mit dessen Aufhebung lösten sich die Frauenvereine auf und die Mehrheit der Frauen trat in die Sozialdemokratische Partei ein. Schon kurze Zeit danach entwickelte sich für Marie Juchacz eine „Bilderbuchkarriere“ in der Politik, welche sie im Jahr 1913 zusammen mit ihrer Schwester nach Köln führte. Während des Ersten Weltkriegs wurde dort die Nationale Frauengemeinschaft für Köln gegründet, die sich den Problemen von Frauen in der Kriegssituation widmete. Marie Juchacz wurde u. a. in einen Ernährungsausschuss gewählt, der für die Verteilung der rationierten Lebensmittel zuständig war. 1917 übernahm sie die Stelle der zentralen Frauensekretärin der SPD in Berlin und wurde nach einer Abspaltung als einzige Frau in den Vorstand der MSPD (Mehrheitssozialdemokratie) gewählt. Im Januar 1919 wurden sie und ihre Schwester in die Verfassungsgebende Versammlung der Weimarer Republik gewählt.[1]

Am 19. Februar 1919 hielt sie – als erste Frau überhaupt – eine Parlamentsrede in Deutschland.

General-Anzeiger f. Dortmund u. die Provinz Westfalen Nr. 46 vom 20.02.1919

„[…] Sie begann mit der Anrede: Meine Herren und Damen! – ein Akt der Höflichkeit, den das Parlament mit Heiterkeit quittierte. […]“ Auch wenn die Anrede bzw. die Vertauschung von „Herren“ und „Damen“ Heiterkeit auslöste, handelte es sich wohl um eine ganz bewusste Entscheidung von ihr. Sie wollte damit deutlich machen, dass es auch in der Anrede eine Gleichberechtigung gibt. Peinlich – zumindest für die Männerwelt damaliger Zeit.[2]

Dürener Zeitung vom 20.02.1919

1919 setzte sie ihre Idee um, eine sozialdemokratische Wohlfahrtspflege zu gründen. Am 13.12.1919 rief sie den „Hauptausschuss für Arbeiterwohlfahrt“ beim Parteivorstand der SPD ins Leben und übernahm den Vorsitz in der Arbeiterwohlfahrt. Damit wurde sie zur Begründerin der heutigen AWO. In den 1920er Jahren rückte ihre Tätigkeit bei der Arbeiterwohlfahrt zunehmend in den Vordergrund.

Um einer Vereinnahmung durch die NSDAP zu entgehen, löste sich die Arbeiterwohlfahrt mit Hitlers Machtübernahme 1933 selbst auf. Juchacz ging daraufhin in das Saarland und floh mit der Wiedereingliederung des Saarlandes ins Deutsche Reich weiter in das Elsass, wo sie im Widerstand und später bei der AWO ins Paris mitarbeitete. Mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs setzte sie ihre Flucht über Südfrankreich und Martinique in die USA fort. Dort baute sie die „Arbeiterwohlfahrt – Opfer des Nationalsozialismus New York“ auf. Erst Anfang 1949 kehrte sie wieder nach Deutschland zurück. Im veränderten Nachkriegsdeutschland war sie bis zu ihrem Tod im Jahr 1956 Ehrenvorsitzende in der AWO.[3]

Der Beschluss zur Straßenbenennung erfolgte mit Sitzung am 13. September 2018 durch den Rat der Stadt Grevenbroich. In der öffentlichen Bekanntmachung der Stadt Grevenbroich ist leider keine Begründung zur Namensvergabe enthalten, wenn auch die Biografie von Marie Juchacz für sich spricht.

In gleicher Sitzung wurde noch ein weiterer Beschluss über eine Straßenbenennung in Grevenbroich gefasst, über die wir in den nächsten Wochen auch noch berichten werden. Auch wenn es sich dabei ebenfalls um eine faszinierende Frau der deutschen Geschichte handelt, darf hier noch kurz angemerkt und gefragt werden, warum bisher keine Straßen nach Grevenbroicher Frauen benannt wurden. Lediglich der neu geschaffene „Dr.-Elfriede-Cohnen-Weg“ bildet hierbei eine Ausnahme und leitet nun hoffentlich eine Wende im Grevenbroicher Straßenwesen ein.

Stefan Faßbender für den Geschichtsverein Grevenbroich, 2023

[1] https://awo.org/index.php/ueber-uns/awo-historie/personen/marie-juchacz; Abruf 11. April 2023 um 16.18 Uhr

[2] https://www.koeln-lotse.de/2019/05/25/marie-juchacz-powerfrau-und-gruenderin-der-awo/; Abruf 11. April 2023 um 22.12 Uhr

[3] https://awo.org/index.php/ueber-uns/awo-historie/personen/marie-juchacz; Abruf 11. April 2023 um 16.18 Uhr

Schausteller auf der Wevelinghovener Kirmes in den Jahren 1926 bis 1928

Heute geht der Geschichtsverein fast 100 Jahre in der Zeit zurück, um zu zeigen, mit welchen Attraktionen die Wevelinghovener zu ihrem Schützenfest zu begeistern waren. Übrigens fand die Wevelinghovener Spätkirmes damals erst am dritten Wochenende im September statt, also gut vier Wochen später als heute.

1926

Im August 1926 bewarb sich ein Herr Friese aus Lemgo, um seine „Brasilianische Urwaldschau“ darzubieten. Auf einer Fläche von 16 x 7 Metern zeigte er Eisbären, Zebras, Tiger, Lamas, Schlangen und Affen. Ob auch Urwaldbewohner aus Brasilien „ausgestellt“ wurden, ist aus dem Schriftwechsel mit dem Veranstalter nicht zu entnehmen. Anzumerken ist jedoch, dass es seit Anfang des 19. Jahrhunderts bis weit ins 20. Jahrhundert zu sogenannten „Freak-Shows“ kam, in denen ungewöhnliche Menschen, wie z. B. der „Löwenmensch“, „Zwerge“, „Frauen mit Bärten“ oder der „Elefantenmensch“, auf menschenverachtendste Weise vorgeführt wurden.

© StA Grevenbroich, Bestand Wevelinghoven, Nr. 2103
© StA Grevenbroich, Bestand Wevelinghoven, Nr. 2103

Der auch noch heute im Kirmesgewerbe tätigen Grevenbroicher Schaustellerfamilie Deden wurde u. a. der Speiseeisverkauf erlaubt. Allerdings erstreckte sich die Erlaubnis nicht auf den Verkauf im Festzelt. Außerdem wurde darauf aufmerksam gemacht, dass der Wevelinghovener Eisverkäufer Kames ebenfalls eine Erlaubnis zum Verkauf erhalten hatte.

© StA Grevenbroich, Bestand Wevelinghoven, Nr. 2103

Insgesamt hatte man der Familie Deden drei Plätze zugewiesen, darunter auch einen Platz für einen Pony-Wagen. Auch wenn früher die meisten Haushalte eigene Haustiere hatten, dürfte es – wie auch heute noch – ein „Highlight“ für die Kinder gewesen sein, auf einem kleinen Pony im Kreis zu reiten.

© StA Grevenbroich, Bestand Wevelinghoven, Nr. 2103

1927

© StA Grevenbroich, Bestand Wevelinghoven, Nr. 2103 – Komet am 20.08.1927

Oben dargestellt ist der Aufruf der Stadt Wevelinghoven zur Vergabe von Standplätzen auf der Herbstkirmes 1927. Im Jahr 1927 waren Geld- und Würfelspiele nicht zugelassen. Welche Beliebtheit das Wevelinghovener Schützenfest bereits vor fast 100 Jahren genoss, ist der Anzeige ebenfalls zu entnehmen: „An den Festlichkeiten nehmen die Einwohner der benachbarten Stadt Grevenbroich und der umliegenden Landgemeinden sehr regen Anteil.“ Laut der Anzeige mussten die Schausteller ihre Anträge unter Beifügung einer Fotografie einreichen. Leider sind diese Fotografien nur noch zum Teil im Archiv vorhanden und können uns heute nur noch einen kleinen optischen Eindruck jener Zeit vermitteln.

Allerdings dürfte Hans Mockens „Rheinische Verlosungshalle“ sowohl bei Jung als auch bei Alt für glänzende Augen gesorgt haben, wenn man die dortige Auslage näher betrachtet. Neben Puppen und Teddybären ist auch eine große Anzahl von Kochtöpfen und Wasserkesseln zu erkennen. Leider ist der ursprüngliche Antrag, aus dem man eventuell noch den Lospreis oder gar weitere Gewinne hätte entnehmen können, nicht mehr vorhanden.

© StA Grevenbroich, Bestand Wevelinghoven, Fotobestand zu Nr. 2103

Im Jahr 1927 dürften jedoch „Die Todesverächter“ für Aufsehen und das Tagesgespräch gesorgt haben, denn nicht nur zwei Herren sondern auch eine Dame begaben sich mit Fahr- und Motorrädern in eine Steilwand. In seinem Bewerbungsbogen schreibt der Schausteller: „Es ist dies eine Höchstleistung artistischen Könnens.“

© StA Grevenbroich, Bestand Wevelinghoven, Nr. 2103

1928

© StA Grevenbroich, Bestand Wevelinghoven, Nr. 2103

Aufgrund der oben dargestellten Anzeige meldete sich bereits am 14.08.1928 die Schaustellerfamilie Franz Graf & Sohn, um einen Platz zum Kirmes- und Schützenfest in Wevelinghoven zu erhalten. Eine durchaus nette und ansprechende Anfrage zu einem sehr aussergewöhnlichen „Fahrgeschäft“, welches der Geschichtsverein eher in die NS-Zeit eingeordnet hätte. Zu beachten ist aber auch der Preis bei Gewinn des Spieles.

„An die Polizei-Verwaltung Wevelinghoven. Bezugnehmend auf Ihre Anzeige im Komet, erlaube ich mir die Anfrage, ob ich zur Kirmes u. Schützenfest Platz erhalten kann, für mein Fliegerbomben-Abwurfspiel 3 m Ø Rundgeschäft, zum Ausspielen von Schokolade. Es ist dieses ein modernes einwandfreies und sauberes Geschäft, welches bei den Behörden auf allen Plätzen, welche ich bisher besucht habe, größten Anklang gefunden hat. Photografie und Gutachten füge ich anbei. In der Hoffnung auf zusagenden Bescheid zeichnet,                           Hochachtungsvoll!

Rich. Graf

1 Photo

1 Gutachten

1 Freiumschlag

N.B.       Bei Zusage bitte ich um Mitteilung, welches die nächste Güterstation ist.“

© StA Grevenbroich, Bestand Wevelinghoven, Nr. 2103

Die beigefügte Fotografie und das Gutachten zum „Fliegerbomben-Abwurfspiel“ sind im Archiv ebenfalls erhalten geblieben und werden nachfolgend abgebildet. Bei genauer Betrachtung des Fotos sind auch noch die Flugzeuge zu erkennen. Das Gutachten beschreibt in detaillierter Weise sowohl das Spiel selbst als auch die Chancen, bei diesem Spiel einen Preis zu gewinnen.

© StA Grevenbroich, Bestand Wevelinghoven, Fotobestand zu Nr. 2103
© StA Grevenbroich, Bestand Wevelinghoven, Nr. 2103
© StA Grevenbroich, Bestand Wevelinghoven, Nr. 2103
© StA Grevenbroich, Bestand Wevelinghoven, Nr. 2103

Stefan Faßbender für den Geschichtsverein Grevenbroich, 2023

Andreas Koll aus Stessen – 5 Wochen vermisst

Eine Vermisstenanzeige im Mitteilungsblatt der Regierung zu Düsseldorf

Im Amtsblatt für den Regierungsbezirk Düsseldorf aus dem Jahr 1827 fand ich vor einigen Jahren eine Mitteilung zu einem Andreas Koll aus Stessen in der damaligen Bürgermeisterei Bedburdyck, der als vermisst gemeldet wurde.

Andreas Koll wurde am 24. Januar 1807 unter dem Namen Johannes Andreas Koll als Sohn der Eheleute Werner Koll und Sophia Lemm(en) in der Pfarrkirche von Bedburdyck getauft. Er hatte mehrere Geschwister. Der Vater Werner war bereits 1815 im Alter von 53 Jahren, die Mutter bereits drei Jahre vorher im Alter von nur 44 Jahren verstorben.

Andreas hatte wohl am 22. Januar bei einem verschneiten Abendhimmel das Haus seiner Schwester in Stessen verlassen und wurde seitdem vermisst.

Vermisstenanzeige von Andreas Koll 1827 im Mitteilungsblatt der Regierung zu Düsseldorf

Amtsblatt für den Regierungsbezirk Düsseldorf Jahrgang 1827, S. 58; http://digital.ub.uni-duesseldorf.de/ihd/periodical/pageview/5612257?query=Amtsblatt%20regierungsbezirk%20d%C3%BCsseldorf (21.5.2023, 17.57 Uhr)

“(Den vermißten Andreas Koll aus Stessen betr.)

                Am 22. vorigen Monats hat sich der wahnsinnige Andreas Koll, Weber seine Gewerbes, von seinem Wohnorte Stessen in der Bürgermeisterei Bedburdick entfernt, ohne daß bisher, ungeachtet aller Nachforschungen sich etwas über sein Verbleiben hat ermitteln lassen, weshalb die Vermuthung entstanden, daß er durch Erfrieren zum Tode gekommen, welches dadurch bestärkt wird, daß am 24. einer seiner Holzschuhe zwischen Herberath und Jüchen im Schnee gefunden wurde.

                Indem ich dessen Signalement und Bekleidungs-Beschreibung hier folgen lasse, ersuche ich Jeden, der über das Schicksal des Vermißten Näheres erfahren möchte, davon hierher Anzeige zu machen.

                Düsseldorf, den 12. Februar 1827

                                                                                              Der Erste Prokurator: Hoffmann

                Der Andreas Koll war 19 Jahre alt, hatte braune Haare und Augenbraunen, flache Stirne, graue etwas röthlich triefende Augen, spitze Nase, mittelmäßiger Mund, ovales Gesicht und war etwas pockennarbigt. Seine Bekleidung bestand in einer wollenen gestrickten Unterweste mit Aermeln, worüber er eine andere Weste trug, in einer blau manschesternen Hose, dunkelgrau wollenen Strümpfen und Holzschuhen, übrigens ohne Rock und Kopfbedeckung.”

Der 19jährige Andreas Koll wird in der Vermisstenanzeige als Wahnsinniger bezeichnet. Die genaue Bedeutung in diesem Zusammenhang ist nicht ganz klar, da es mehrere Deutungsmöglichkeiten gibt.

Der Begriff des „Wahnsinns“ wurde historisch einerseits in unterschiedlichen Kontexten mit verschiedenen Bedeutungen verwendet und andererseits rückblickend auf verschiedene Phänomene angewendet. In Wikipedia finden wir unter dem Begriff „Wahnsinn“ die Beschreibung, dass als solcher bis etwa zum Ende des 19. Jahrhunderts bestimmte Verhaltens- oder Denkmuster bezeichnet wurden, die nicht der akzeptierten sozialen Norm entsprachen. Meist bestimmten gesellschaftliche Konventionen, was unter „Wahnsinn“ verstanden wurde: Der Begriff konnte für bloße Abweichungen von den Konventionen stehen. Er konnte aber auch für psychische Störungen verwendet werden, bei denen ein Mensch bei vergleichsweise normaler Verstandesfunktion an krankhaften Einbildungen litt, bis hin zur Kennzeichnung völlig bizarrer und (selbst-) zerstörerischer Handlungen. Auch Krankheitssymptome wie etwa Epilepsie oder ein Schädel-Hirn-Trauma wurden zeitweilig als Wahnsinn bezeichnet. Welche Normabweichungen noch als „Verschrobenheit“ akzeptiert wurden und welche bereits als „verrückt“ galten, konnte sich abhängig von Region, Zeit und sozialen Gegebenheiten erheblich unterscheiden. Daher lassen sich moderne Krankheitskriterien und -bezeichnungen in der Regel nicht auf die historischen Ausprägungen von Wahnsinn anwenden. Am ehesten würde heute die Diagnose Schizophrenie dem Wahnsinn entsprechen. (Quelle: https://de.wikepedia.org/wiki/Wahnsinn, 18.6.2023, 14.22 Uhr)

Klar ist zumindest, dass es mit Sicherheit Wahnsinn war, bei winterlichem Wetter das Haus zu verlassen. Was Andreas Koll dazu trieb, wird wohl immer sein Geheimnis bleiben. Die Vermisstenanzeige und der Sterbeeintrag im Kirchenbuch geben uns hier jedoch einen interessanten Einblick in das Wetter jener Zeit, welches wir uns heute kaum noch vorstellen können.

An Winter mit mehr als 10 cm Schnee hier bei uns im Rheinland dürften sich Jüngere kaum erinnern. Mein Vater, Hans Peter Salmann, der 1942 in Jüchen geboren wurde und als Kind in einem kleinen Häuschen in Jüchen an der Köttelwesch wohnte (damals Weg entlang eines Baches, heute Verbindungsweg zwischen Leerser Straße und Kelzenberger Straße) hatte mir einmal erzählt, dass er als Vierjähriger beinahe im am Haus vorbeifließenden Bach ertrunken wäre. Der Bach hatte sich aufgrund von Schneeschmelze bereits 400 bis 500 Meter unterhalb der Quelle in ein reißendes Fließgewässer verwandelt. Mehr als einmal stand das Erdgeschoss des kleinen Hauses bis zu einem Meter unter Wasser. Hühner und Ziege mussten auf einem Treppenabsatz ausharren, während sich die Bewohner ins Dachgeschoss flüchteten.

Im Januar 1827, als Andreas Koll verschwand, müssen ebenfalls außergewöhnliche Wetterverhältnisse geherrscht haben, denn in den Mitteilungen der Regierung zu Düsseldorf vom 20. März 1827 heißt es, dass seit dem 17. Januar dauerhafte und weiter ansteigende Kälte geherrscht habe. Die kleineren Gewässer waren ganz zugefroren, die größeren Gewässer waren zum größten Teil mit einer dicken Eisschicht bedeckt, sodass die Flüsse Lippe, Ruhr und Wupper mit schwer beladenen Fuhrwerken ohne Gefahr überquert werden konnten. Der Rhein führte so viel Grundeis mit sich, dass es sich in den Niederlanden staute. „Es war in derselben Zeit eine nicht gewöhnliche Menge Schnee gefallen“ heißt es weiter im amtlichen Bericht.

http://digital.ub.uni-duesseldorf.de/ihd/periodical/pageview/5612297?query=Amtsblatt%20 regierungsbezirk%20d%C3%BCsseldorf (18.6.2023, 15.37 Uhr)

Nachdem man bereits am 24. Januar einen seiner Holzschuhe zwischen Herberath und Jüchen gefunden hatte, wurde im März desgleichen Jahres Andreas Koll schließlich in einem Graben bei Jüchen erfroren aufgefunden, „nachdem die Schneemassen nach 5 Wochen abgezogen waren“. Am 3. März wurde er in Bedburdyck beigesetzt. Sein Sterbedatum wurde auf den 23. Januar festgesetzt, auf den Tag nach seinem Verschwinden. Im Sterbeeintrag des Kirchenbuchs wird er als „adolescens dilirans“ (verrückter junger Mann) bezeichnet.

Kirchenbuch Bedburdyck, Sterbeeintrag von Andreas Coll

Michael Salmann für den Geschichtsverein Grevenbroich, 2023

Wir fordern Toilettenpapier für alle!

Heute möchte euch der Geschichtsverein zusammen mit dem Stadtarchiv Grevenbroich einige kuriose Fundstücke aus der NS-Zeit zeigen. Für uns heutige Leser dürften diese Schriftstücke wohl nur Kopfschütteln und ein herzhaftes Lachen hervorrufen, während es damals sicherlich absolut ernst gemeint war, da sich sonst nicht führende „Köpfe“ der Verwaltung und des Gesundheitsamtes mit dieser Angelegenheit beschäftigt hätten.

Gab es die Gleichberechtigung bei der Toilettenpapiernutzung für Beamte und Angestellte? Wurde die tägliche Anzahl der zur Verfügung stehenden Blätter nach Dienstalter, Geschlecht, Rang etc. bestimmt? Welches Papier war den Nutzern zuträglich? Für das Publikum empfahl Dr. Peretti zumindest mittelgroße Strohwische!

StA Grevenbroich, Bestand Wevelinghoven
StA Grevenbroich, Bestand Wevelinghoven

Wie kostbar das Toilettenpapier in den 1930er Jahren war, ist den beiden nachfolgenden Bildern zu entnehmen. Herr Bürgermeister Dr. Widmann „musste“ wohl genauestens Buch darüber führen und Meldung abgeben, wie viele Papierrollen er aus dem Gesamtbestand der Verwaltung für sich bzw. seine Büros entnommen hat.

StA Grevenbroich, Bestand Wevelinghoven
StA Grevenbroich, Bestand Wevelinghoven

Abschließend möchten wir die heutige Verwaltung noch fragen, ob bei der Papiersorte noch immer nach Beamten und Angestellten (4-lagig, weiches Papier mit Blümchen) und dem Publikumsverkehr (1-lagig, hartes Recyclingpapier) unterschieden wird? Des Weiteren würde uns auch interessieren, ob heute noch eine Statistik über den Toilettenpapierverbrauch der einzelnen Verwaltungsbereiche geführt wird. Dies natürlich mit einem großen Augenzwinkern 😉, weil Geschichte auch mal zum Lachen anregen darf!

Stefan Faßbender für den Geschichtsverein Grevenbroich, 2023

Der 25. Juli 1917 –

Ein Unglückstag im Grevenbroicher Erftwerk oder

Wie ein Teil eines alten Fotobestandes im Stadtarchiv historisch neu eingeordnet werden kann.

© StA Grevenbroich, Fotobestand Erftwerk, Band 4, Nr. 021 – Umformerhaus nach Fertigstellung

Manchmal führen auch Sterbeurkunden aus dem Stadtarchiv zu einer interessanten aber auch gleichzeitig traurigen „Stadtgeschichte“, die heute vorgestellt wird.

Viele Grevenbroicher Bürger kennen das Erftwerk oder haben sogar über Generationen hinweg dort gearbeitet. Es wurde aufgrund der Aluminiumknappheit im Ersten Weltkrieg gebaut. Im Spätsommer 1916 schlossen sich daher das RWE, die Firma Gebrüder Giulini und das Deutsche Reich zu einem Syndikat zusammen, um in Allrath (das Gelände gehört zur Gemarkung Allrath) zwischen der B 59 und der Bahnlinie Köln – Mönchengladbach auf dem Grundstück einer damals noch vorhandenen Ziegelei eine Produktionsstätte für Aluminium zu errichten. Die Grundsteinlegung erfolgte unmittelbar danach.

In bisherigen Veröffentlichungen über das Erftwerk wurde der Bau in der Regel als ein sehr geheimes Ereignis eingestuft und auch dargestellt. Durch die Geheimhaltung sollte den Kriegsgegnern ein mögliches Angriffsziel nicht offengelegt werden. Umso verwunderlich ist, dass bei den Recherchen zu diesem Beitrag eine Vielzahl von Stellenanzeigen für den Bau des Erftwerkes und später auch für die Produktion von Aluminiumerzeugnissen sowie den Bereich der Verwaltung gefunden wurden.

„Tüchtige Maurer und Bauhilfsarbeiter werden eingestellt für längere Beschäftigung für die Baustelle Erftwerk in Grevenbroich. Bauunternehmung Heinr. Stöcker, Köln-Mühlheim.“

Westdeutsche Landeszeitung Nr. 210 vom 9.9.1916

Bei der nächsten Stellenanzeige sind besonders die Vergütungsbestandteile hervorzuheben:

1) Reichliche gute Verpflegung vorhanden.

2) Reise und Fahrgeld wird vergütet.

Rhein- und Ruhrzeitung Nr. 535 vom 18.10.1916
© StA Grevenbroich, Fotobestand Erftwerk, Band 1, Nr. 020 – Baustand vom 15. Juni 1917

Nachfolgend ein Foto des Umformerhauses vom 5. Juli 1917, also nur 20 Tage vor dem Unglückstag. Hierbei sollte das Augenmerk auf die Konstruktion der Halle und insbesondere die obere „freischwebende“ Wand rechts im Bild gelegt werden. Anscheinend wurde zunächst eine Eisenkonstruktion erstellt und anschließend die Wände ausgemauert. Dies alles in einer rasanten Zeit wie der Vergleich der Fotos vom 15. Juni 1917 (Bild oben) und 5. Juli 1917 (Bild unten) zeigt.

© StA Grevenbroich, Fotobestand Erftwerk, Band 1, Nr. 036 – Baustand vom 5. Juli 1917

Aufgrund einer Anfrage eines auswärtigen Ahnenforschers, warum Ende Juli 1917 in den Sterberegistern von Grevenbroich acht Sterbefälle zeitgleich vermerkt wurden, die alle von der Polizeibehörde Grevenbroich gemeldet wurden, wandte sich das Stadtarchiv Grevenbroich an den Arbeitskreis Familienforschung im Geschichtsverein Grevenbroich, um diesem Rätsel auf die Spur zu kommen. Die Urkunden selbst boten dabei keine große Hilfe, da als Sterbeorte lediglich Allrath bzw. Grevenbroich angegeben wurden. Da alle Opfer von Beruf Maurer oder Hilfsarbeiter waren, wurde vermutet, dass es sich wohl um eine Baustelle rund um Allrath handeln musste. Aber weder die Schulchronik Allrath noch sonstige Unterlagen im Stadtarchiv gaben einen Hinweis auf einen möglichen Unglücksfall. Daher drängte sich schnell der Verdacht auf, dass es sich evtl. um einen Luftangriff während des Ersten Weltkrieges handeln musste und dieser Angriff einfach nicht dokumentiert wurde.

[Hinweis: Viele Bürger wissen nicht, dass es bereits im Ersten Weltkrieg zu Luftangriffen auf Grevenbroich kam und diese zum Teil auch erhebliche Schäden anrichteten. Zu diesem Thema wird der Geschichtsverein Grevenbroich im Herbst/Winter 2023 einen umfangreichen Beitrag veröffentlichen, der diese Ereignisse dann in den einzelnen Stadtteilen und den Luftkrieg im Ersten Weltkrieg im Allgemeinen beschreibt. Material in Form von Feldpostbriefen oder Fotos wird gerne noch entgegengenommen.]

Zur Klärung der großen Anzahl an Toten wurden die Opferlisten des Ersten Weltkrieges auf mögliche Namensgleichheit hin überprüft. Die Recherchen blieben jedoch erfolglos und konnten keinen Bezug zu möglichen Kriegseinflüssen herstellen. Als letzte Möglichkeit blieben nur noch die Sterbeeinträge (in lateinischer Sprache) in den Kirchenbüchern als Quelle übrig, da einige Opfer aus Grevenbroich und seiner Umgebung kamen. Letztendlich gaben zwei Einträge in der Genius Datenbank des Arbeitskreises Familienforschung den entscheidenden Hinweis:

Quelle: Genius – Arbeitskreis Familienforschung
Quelle: Kirchenbuch Bedburdyck – St. Martinus
Quelle: Kirchenbuch Jüchen – St. Jacobus der Ältere

Durch den entscheidenden Hinweis „durch ein schwankendes Gebäude in der Fabrik Erftwerk getötet“ konnte nun gezielt der Aktenbestand zum Erftwerk im Stadtarchiv Grevenbroich durchsucht werden. Dort fand sich aber lediglich ein Schriftstück zu dem Unglücksfall, welches nachfolgend abgebildet ist. Zumindest wurde damit klar, dass die acht Personen Opfer eines Unglücks im Erftwerk wurden. Weder Unfallhergang noch -ursache wurde aber irgendwo vermerkt, so dass an dieser Stelle nur spekuliert werden kann.

StA Grevenbroich, Bestand Erftwerk, Nr. 382

In den Unterlagen konnte allerdings eine Bauzeichnung des Umformerhauses gefunden werden. Ursprünglich wurde diese Zeichnung im Dezember 1916 erstellt und dann handschriftlich auf den 3. März 1917 geändert. Warum die Zeichnung am 3. März 1921 nochmals mit einem Stempel der Erftwerk Aktien-Gesellschaft und zwei Unterschriften versehen wurde, erschließt sich zurzeit nicht.

Vielleicht wurde das Erftwerk wirklich sehr kurzfristig und schnell während der Kriegszeit geplant bzw. gebaut, und dies alles ohne umfangreiche Baupläne und Genehmigungsverfahren. Unter Umständen könnte dies auch der Grund dafür sein, warum die Wände des Umformerhauses im Juli 1917 einstürzten und acht Bauarbeiter unter sich begruben. Vielleicht wurden die Genehmigungen auch erst im Jahr 1921 rückwirkend gewährt, da die Produktion von Aluminium nach Kriegsende zunächst (unter Umständen auch zwangsweise wegen der Besatzungsmächte) für einige Jahre stillgelegt wurde.

© StA Grevenbroich, Fotobestand Erftwerk, Band 1, Nr. 038

Nachfolgend noch eine Beschreibung, in der sehr gut dargestellt wurde, worum es sich bei diesen Gebäuden handelte:

StA Grevenbroich, Bestand Erftwerk, Nr. 801

Gesichert ist, dass folgende Personen beim Einsturz der Wände des Umformerhauses erschlagen bzw. begraben und zum Teil erst Tage später gefunden wurden:

1) Maurer Peter Josef Lennartz, 46 Jahre alt, wohnhaft in Hetzerath wurde am 25.7.1917 um 19.15 Uhr tot aufgefunden.

2) Hilfsarbeiter Michael Coenen, 18 Jahre alt, wohnhaft in Gustorf wurde am 25.7.1917 um 19.30 Uhr tot aufgefunden.

3) Maurer Heinrich Creutz, 49 Jahre alt, wohnhaft in Gubberath starb am 27.7.1917 um 19.00 Uhr im Krankenhaus Grevenbroich.

4) Hilfsarbeiter Wilhelm Heister, 27 Jahre alt, wohnhaft in Stessen wurde am 27.7.1917 um 8.00 Uhr tot aufgefunden.

5) Hilfsarbeiter Theodor Görtz, 17 Jahre alt, wohnhaft in Jüchen wurde am 27.7.1917 um 17.00 Uhr tot aufgefunden.

6) Maurer Josef Nießen, 39 Jahre alt, wohnhaft in Düren wurde am 26.7.1917 um 3.00 Uhr tot aufgefunden.

7) Maurer Josef Herold, 39 Jahre alt, wohnhaft in Oberfell wurde am 27.7.1917 um 11.00 Uhr tot aufgefunden.

8) Hilfsarbeiter Hermann Nüchter, 23 Jahre alt, wohnhaft zu Gustorf wurde am 28.7.1917 um 10.00 Uhr tot aufgefunden.

Laut den Sterbeurkunden sind alle Opfer „am fünf und zwanzigsten Juli dieses Jahres nachmittags sieben Uhr zuletzt lebend gesehen worden“.

Warum es bis zu drei Tage dauerte, alle Leichen unter den Trümmern der eingestürzten Wände zu finden, veranschaulichen auf sehr erschreckende Weise die nachfolgenden Fotos. Diese wurden in einem bisher nicht beschrifteten und zuordnungsbaren Fotobestand zum Erftwerk gefunden. Niemand konnte diese Fotos bisher auf das Ereignis bezogen einordnen, da bis auf das oben beschriebene einzige Schriftstück keinerlei Informationen zu einem schweren Unglücksfall im Gesamtbestand des Stadtarchives Grevenbroich jemals gesichtet wurde. Bei den beiden folgenden Fotos sollte unbedingt auf die Höhe der Türöffnung zum Boden hin geachtet werden. Dies lässt die Vermutung zu, dass die Trümmer bis zu 5 – 6 Meter hoch lagen.

© StA Grevenbroich, Fotobestand Erftwerk, Band 4, Nr. 034
© StA Grevenbroich, Fotobestand Erftwerk, Band 4, Nr. 026
© StA Grevenbroich, Fotobestand Erftwerk, Band 4, Nr. 030
© StA Grevenbroich, Fotobestand Erftwerk, Band 4, Nr. 033

Auch wenn bisher nicht alle Geschehnisse rund um diesen Unglücksfall geklärt werden konnten, freuen wir uns zusammen mit dem Stadtarchiv Grevenbroich zumindest die Ursache für den Tod von acht, zum Teil sehr jungen Männern und die Einordnung des Ereignisses auf den Fotos herausgefunden zu haben. Außerdem wird hierdurch auch die Wichtigkeit der Zusammenarbeit zwischen Heimatforschern, dem Geschichtsverein Grevenbroich und dem Stadtarchiv Grevenbroich deutlich. Manche Rätsel lassen sich eben nur interinstitutionell oder gemeinsam lösen.

Ein großer Dank gebührt Frau Cornelia Schulte vom Stadtarchiv Grevenbroich, die unermüdlich schwere Kartons aus dem Keller geholt und zur Verfügung gestellt hat, um irgendeinen Hinweis zu dem Unglücksfall finden zu können. Ebenso für die Hilfe, die historischen Fotos mit den noch vorhandenen Bauplänen aus jener Zeit bis ins kleinste Detail zu vergleichen, damit sichergestellt ist, dass hier die dargestellten Bilder mit dem Ereignis übereinstimmen.

Stefan Faßbender für den Geschichtsverein Grevenbroich, 2023