Vermutlich kennt jeder den preisgekrönten Film „Der Soldat James Ryan“ von Steven Spielberg aus dem Jahr 1998, der eigentlich auf das Schicksal der Niland-Brüder zurückgeht. Aufgrund der sogenannten „Sole Survivor Policy“ wurden amerikanische Soldaten von der kämpfenden Front in die USA zurückgeschickt, wenn sie die letzten Überlebenden von Soldatenbrüdern einer Familie waren. Bis 2008 handelte es sich hierbei nicht um ein Gesetz, sondern lediglich um ein internes militärisches Regelwerk seit den amerikanischen Sezessionskriegen. Dies änderte sich erst im August 2008 mit dem „Hubbard Act“, einem Gesetz, welches auf die „Sole Survivor Policy“ Bezug nimmt. Heute gilt es auch für Soldatinnen.
Gab es für die Deutsche Wehrmacht ein ähnliches Regelwerk oder sogar ein Gesetz?
Ja. Auch für Soldaten der Wehrmacht gab es eine ähnliche Verfügung, die im Juni 1940 veröffentlicht wurde. Zu diesem Zeitpunkt war der Westfeldzug erfolgreich abgeschlossen und die Verluste im Verhältnis zum später beginnenden Ostfeldzug geringer. Heutige Schätzungen gehen von rund 27.000 gefallenen Soldaten aus, die während der Westoffensive gefallen waren. Dementsprechend waren Soldaten aus der kämpfenden Truppe eher verzichtbar und konnten an weniger gefährdete Stellen der Front oder in die Heimat versetzt werden.

Anmerkung zum Artikel: Zu diesem Zeitpunkt wurde der 2. Weltkrieg noch nicht als solcher benannt, daher wird der 1. Weltkrieg hier als „Weltkrieg“ erwähnt.
Im Jahr 1942 wurde diese Regelung nochmalig ergänzt bzw. erweitert, wenn der Soldat der letzte überlebende Sohn einer Familie war.

Während des weiteren Verlaufes des Zweiten Weltkrieges, insbesondere nach Beginn des Russlandfeldzuges und den damit verbundenen sehr stark ansteigenden hohen Verlusten, wurden die Befreiungsvorschriften immer mehr ausgesetzt bzw. gestrichen. Im September 1943 wurden die Schutzbestimmungen für einzige und letzte Söhne vollends aufgehoben. Lediglich Väter mit fünf noch lebenden, unversorgten Kindern bzw. Familien mit fünf und mehr im Wehrdienst stehenden Söhnen konnten sich noch auf die Schutzbestimmungen berufen.

In Grevenbroich ereignete sich ein besonders tragischer Fall, der sowohl die Verzweiflung einer Mutter zeigt, ihre Söhne oder zumindest einen ihrer Söhne retten zu wollen, als auch ihren Mut, immer wieder neue Anträge beim Bürgermeister von Wevelinghoven zu stellen.
Das Netzwerk „Kriegstote in Grevenbroich“ ist bei Recherchen zufällig auf die Akte der Familie Düxmann aus Langwaden gestoßen und hat sich daher entschlossen, dieses Thema zu beleuchten. Unter Beachtung des Datenschutzes nach dem Personenstandsgesetz werden hier bis auf wenige Ausnahmen auch die Namen und Daten aller Familienmitglieder genannt. Sollten sich Nachkommen in dieser Familie wiederfinden, würden wir uns sehr über eine Kontaktaufnahme freuen, um weitere Informationen bzw. Bilder/Totenzettel zu erhalten, damit die Opfer dieses Krieges endlich ein „Gesicht“ bekommen.
Wer war die Familie Düxmann aus Langwaden und welche Schicksale musste sie während des Zweiten Weltkrieges ertragen?
Die Familie von Wilhelm Düxmann (*1879, +1935) und Anna Steins (*1879, +1947) hatte insgesamt 8 Kinder (6 Söhne und 2 Töchter). Alle 6 Söhne wurden während des Krieges zur Wehrmacht eingezogen.

Am 10. August 1941 um 14.30 Uhr starb der Sohn Wilhelm Düxmann (*1915, +1941) im Alter von 26 Jahren bei Rodnja (bzw. Rudnja oder Rodiga) in Russland. Er war Obergefreiter des Panzer Stab Artillerie Regiments Nr. 103 und starb an den Verletzungen durch einen Granatsplitter im Hinterkopf. In der Verlustkartei für Wehrmachtsangehörige wurde als Grablage die Ortsstraße in Ssokolowka angegeben. Eine Überführung auf einen Soldatenfriedhof hat bisher nicht stattgefunden.
Nur einen Monat später, am 12. September 1941, starb der Sohn Anton Düxmann (*1917, +1941) im Alter von 24 Jahren in Michajlowsskaja bei dem Angriff bzw. der Belagerung von Leningrad (heute: St. Petersburg). Laut dem Volksbund befindet sich sein Grab noch immer in Iwanowka-Ropscha in Russland. Eine Umbettung auf einen Soldatenfriedhof hat bisher nicht stattgefunden.
Mit dem Tod ihrer o. g. Söhne Wilhelm und Anton im August bzw. September 1941 stellte die Mutter Anna Düxmann geb. Steins unter Bezugnahme auf den Führererlass einen Antrag, ihren jüngsten Sohn Michael Düxmann (*1920) vom Einsatz in der kämpfenden Truppe zu befreien und ihn in ein Ersatz-Bataillon zu versetzen.

Die Entscheidung oder die Beweggründe der Mutter, für den einen oder anderen Sohn einen Antrag zu stellen, können wir aufgrund der Aktenlage leider nicht beurteilen. Es muss aber für eine Mutter herzzerreißend gewesen sein, sich für nur ein Kind entscheiden zu müssen. Wir können auch nicht beurteilen, welchen Repressalien sie mit ihren Anträgen beim Bürgermeisteramt oder auch in der Nachbarschaft ausgesetzt war.
Dieser Antrag hatte aber Erfolg, denn bereits am 2. November 1942 stellte die Mutter einen erneuten Antrag. Diesmal, um selbigen Sohn Michael Düxmann nun vollständig aus dem Wehrdienst herauszuholen. Begründet wurde der Antrag damit, dass Michael der Haupternährer der Familie sei und bereits zwei andere Söhne gefallen waren. Laut der u. g. Feldpost Nr. 25494 muss Michael zum Infanterie-Ersatz-Regiment 216 gehört haben, welches in Hameln stationiert war. Im Oktober 1942 wurde das Regiment zum Reserve-Infanterie-Regiment 216 umgegliedert und nach Belgien verlegt. Im November 1942 wurde das Regiment zum Reserve-Grenadier-Regiment 216 umbenannt und kam danach bei Dixmuiden in Belgien zum Einsatz.

Dieser Antrag hatte aber wohl keinen Erfolg, da sie bereits 10 Monate später einen wiederholenden Antrag stellte. Gemäß der nun genannten Feldpost Nr. 57524 gehörte Michael dem Regimentsstab-Infanterie- (bzw. Grenadier-) Regiment 891 an. Dieses wurde am 20. Mai 1943 als bodenständiges Regiment in Belgien aufgestellt.

Vermutlich kam es in den nächsten 6 Wochen noch zu einer Verschlimmerung für ihren Sohn Michael, denn seine Truppe gehörte nach dieser Zeit wieder zu den kämpfenden Einheiten. Das Regiment 891 wurde im Oktober 1943 nach Kroatien verlegt. Daraufhin stellte seine Mutter bereits am 1. November 1943 einen erneuten Antrag, ihren Sohn aus der kämpfenden Truppe zurückzuziehen und denselben im Heimatkriegsgebiet verwenden zu wollen.

Wie verzweifelt muss die Mutter wohl gewesen sein, denn wie bereits am Anfang beschrieben, wurden im September 1943 de facto alle Schutzbestimmungen für kämpfende Soldaten aufgehoben. Entsprechend wurde der Antrag der Mutter nicht genehmigt. Ihr jüngster Sohn, der Unteroffizier Michael Düxmann (*1920, +1943), ist im Alter von nur 23 Jahren in Zara im Balkan gefallen. Laut dem Volksbund ist er vermutlich als unbekannter Soldat auf die Kriegsgräberstätte Split überführt worden. Sein Regiment 891 wurde im Dezember 1944 vollends vernichtet.
Dennoch begab sich Anna Düxmann am 26. Januar 1944, vermutlich unbeirrt oder verzweifelt und mit viel Mut, erneut zum Bürgermeister nach Wevelinghoven. Und das zu einer Zeit, als die Wehrmacht bereits überall auf dem Rückzug war und die letzten noch wehrfähigen Männer im Reichsgebiet zum Kriegseinsatz eingezogen wurden.
An diesem Tag stellte sie einen Antrag, ihren ältesten Sohn Hermann Düxmann aus den kämpfenden Truppen zurückzuziehen, der erst am 28. August 1943 einberufen wurde und sich zu diesem Zeitpunkt in Modlin/Südostpreußen befand. Vermutlich war er dort in der Garnison Modlin, einer der größten polnischen Festungen, stationiert. Die Festung beheimatete neben einer Division auch ein Rekrutenausbildungszentrum der Wehrmacht und einen Nachschubstützpunkt für die Ostfront. Die äußeren Forts wurden u. a. auch für ein Durchgangslager und ein Konzentrationslager genutzt. 1945 wurde die Festung von der Roten Armee befreit.

Hermann Düxmann überlebte den Krieg. Vermutlich wurde er nicht aus der kämpfenden Truppe versetzt. Ob er in russische Gefangenschaft geriet oder sich rechtzeitig in Richtung Westen „absetzen“ konnte, ist aus den vorliegenden Unterlagen leider nicht zu ersehen. Jetzt würde man sich wünschen, dass er mit seiner Frau Gertrud Bodewein noch viele glückliche und zufriedene Jahrzehnte hätte verbringen dürfen. Doch dies blieb ihm nicht vergönnt, denn er starb am 13. Juli 1949 durch einen Verkehrsunfall im Grevenbroicher Krankenhaus. Das Schicksal kann manchmal sehr grausam sein.

Der zweitgeborene Sohn Johann Düxmann (*1908, +1964) überlebte den Krieg ebenfalls. Er starb am 17. September 1964 in Grevenbroich. Laut seiner Feldpost Nr. 13751 E gehörte Johann zu diesem Zeitpunkt wohl zur 4. Kompanie des Stellungsbau-Pionier-Bataillon Nr. 788. Das Bataillon wurde im September 1943 nach Italien verlegt und war noch bis 1945 im Raum Udine unter der 10. Armee eingesetzt. Weitere Informationen sind zurzeit nicht bekannt.
Der drittgeborene Sohn Adam Düxmann (*1913, +1981) überlebte auch den Krieg. Er starb am 3. Januar 1981 in Grevenbroich. Laut seiner Feldpost Nr. 24799 C gehörte er zur 8. Batterie des Artillerie-Regiments Nr. 306. Dieses wurde im Januar 1945 gestrichen. Vermutlich gehörte seine Einheit zur Heeresgruppe Südukraine. Ein eindeutiger Standort lässt sich zurzeit jedoch nicht identifizieren. Weitere Informationen sind leider zurzeit auch nicht bekannt.
Für die Eindrücklichkeit solch erschütternder Ereignisse können auch die amtlichen Anträge und Eintragungen stehen – trotz Bürokratie fast spielfilmreif.
Stefan Rosellen und Stefan Faßbender für das Netzwerk „Kriegstote in Grevenbroich“, 2024