Andreas Koll aus Stessen – 5 Wochen vermisst

Eine Vermisstenanzeige im Mitteilungsblatt der Regierung zu Düsseldorf

Im Amtsblatt für den Regierungsbezirk Düsseldorf aus dem Jahr 1827 fand ich vor einigen Jahren eine Mitteilung zu einem Andreas Koll aus Stessen in der damaligen Bürgermeisterei Bedburdyck, der als vermisst gemeldet wurde.

Andreas Koll wurde am 24. Januar 1807 unter dem Namen Johannes Andreas Koll als Sohn der Eheleute Werner Koll und Sophia Lemm(en) in der Pfarrkirche von Bedburdyck getauft. Er hatte mehrere Geschwister. Der Vater Werner war bereits 1815 im Alter von 53 Jahren, die Mutter bereits drei Jahre vorher im Alter von nur 44 Jahren verstorben.

Andreas hatte wohl am 22. Januar bei einem verschneiten Abendhimmel das Haus seiner Schwester in Stessen verlassen und wurde seitdem vermisst.

Vermisstenanzeige von Andreas Koll 1827 im Mitteilungsblatt der Regierung zu Düsseldorf

Amtsblatt für den Regierungsbezirk Düsseldorf Jahrgang 1827, S. 58; http://digital.ub.uni-duesseldorf.de/ihd/periodical/pageview/5612257?query=Amtsblatt%20regierungsbezirk%20d%C3%BCsseldorf (21.5.2023, 17.57 Uhr)

“(Den vermißten Andreas Koll aus Stessen betr.)

                Am 22. vorigen Monats hat sich der wahnsinnige Andreas Koll, Weber seine Gewerbes, von seinem Wohnorte Stessen in der Bürgermeisterei Bedburdick entfernt, ohne daß bisher, ungeachtet aller Nachforschungen sich etwas über sein Verbleiben hat ermitteln lassen, weshalb die Vermuthung entstanden, daß er durch Erfrieren zum Tode gekommen, welches dadurch bestärkt wird, daß am 24. einer seiner Holzschuhe zwischen Herberath und Jüchen im Schnee gefunden wurde.

                Indem ich dessen Signalement und Bekleidungs-Beschreibung hier folgen lasse, ersuche ich Jeden, der über das Schicksal des Vermißten Näheres erfahren möchte, davon hierher Anzeige zu machen.

                Düsseldorf, den 12. Februar 1827

                                                                                              Der Erste Prokurator: Hoffmann

                Der Andreas Koll war 19 Jahre alt, hatte braune Haare und Augenbraunen, flache Stirne, graue etwas röthlich triefende Augen, spitze Nase, mittelmäßiger Mund, ovales Gesicht und war etwas pockennarbigt. Seine Bekleidung bestand in einer wollenen gestrickten Unterweste mit Aermeln, worüber er eine andere Weste trug, in einer blau manschesternen Hose, dunkelgrau wollenen Strümpfen und Holzschuhen, übrigens ohne Rock und Kopfbedeckung.”

Der 19jährige Andreas Koll wird in der Vermisstenanzeige als Wahnsinniger bezeichnet. Die genaue Bedeutung in diesem Zusammenhang ist nicht ganz klar, da es mehrere Deutungsmöglichkeiten gibt.

Der Begriff des „Wahnsinns“ wurde historisch einerseits in unterschiedlichen Kontexten mit verschiedenen Bedeutungen verwendet und andererseits rückblickend auf verschiedene Phänomene angewendet. In Wikipedia finden wir unter dem Begriff „Wahnsinn“ die Beschreibung, dass als solcher bis etwa zum Ende des 19. Jahrhunderts bestimmte Verhaltens- oder Denkmuster bezeichnet wurden, die nicht der akzeptierten sozialen Norm entsprachen. Meist bestimmten gesellschaftliche Konventionen, was unter „Wahnsinn“ verstanden wurde: Der Begriff konnte für bloße Abweichungen von den Konventionen stehen. Er konnte aber auch für psychische Störungen verwendet werden, bei denen ein Mensch bei vergleichsweise normaler Verstandesfunktion an krankhaften Einbildungen litt, bis hin zur Kennzeichnung völlig bizarrer und (selbst-) zerstörerischer Handlungen. Auch Krankheitssymptome wie etwa Epilepsie oder ein Schädel-Hirn-Trauma wurden zeitweilig als Wahnsinn bezeichnet. Welche Normabweichungen noch als „Verschrobenheit“ akzeptiert wurden und welche bereits als „verrückt“ galten, konnte sich abhängig von Region, Zeit und sozialen Gegebenheiten erheblich unterscheiden. Daher lassen sich moderne Krankheitskriterien und -bezeichnungen in der Regel nicht auf die historischen Ausprägungen von Wahnsinn anwenden. Am ehesten würde heute die Diagnose Schizophrenie dem Wahnsinn entsprechen. (Quelle: https://de.wikepedia.org/wiki/Wahnsinn, 18.6.2023, 14.22 Uhr)

Klar ist zumindest, dass es mit Sicherheit Wahnsinn war, bei winterlichem Wetter das Haus zu verlassen. Was Andreas Koll dazu trieb, wird wohl immer sein Geheimnis bleiben. Die Vermisstenanzeige und der Sterbeeintrag im Kirchenbuch geben uns hier jedoch einen interessanten Einblick in das Wetter jener Zeit, welches wir uns heute kaum noch vorstellen können.

An Winter mit mehr als 10 cm Schnee hier bei uns im Rheinland dürften sich Jüngere kaum erinnern. Mein Vater, Hans Peter Salmann, der 1942 in Jüchen geboren wurde und als Kind in einem kleinen Häuschen in Jüchen an der Köttelwesch wohnte (damals Weg entlang eines Baches, heute Verbindungsweg zwischen Leerser Straße und Kelzenberger Straße) hatte mir einmal erzählt, dass er als Vierjähriger beinahe im am Haus vorbeifließenden Bach ertrunken wäre. Der Bach hatte sich aufgrund von Schneeschmelze bereits 400 bis 500 Meter unterhalb der Quelle in ein reißendes Fließgewässer verwandelt. Mehr als einmal stand das Erdgeschoss des kleinen Hauses bis zu einem Meter unter Wasser. Hühner und Ziege mussten auf einem Treppenabsatz ausharren, während sich die Bewohner ins Dachgeschoss flüchteten.

Im Januar 1827, als Andreas Koll verschwand, müssen ebenfalls außergewöhnliche Wetterverhältnisse geherrscht haben, denn in den Mitteilungen der Regierung zu Düsseldorf vom 20. März 1827 heißt es, dass seit dem 17. Januar dauerhafte und weiter ansteigende Kälte geherrscht habe. Die kleineren Gewässer waren ganz zugefroren, die größeren Gewässer waren zum größten Teil mit einer dicken Eisschicht bedeckt, sodass die Flüsse Lippe, Ruhr und Wupper mit schwer beladenen Fuhrwerken ohne Gefahr überquert werden konnten. Der Rhein führte so viel Grundeis mit sich, dass es sich in den Niederlanden staute. „Es war in derselben Zeit eine nicht gewöhnliche Menge Schnee gefallen“ heißt es weiter im amtlichen Bericht.

http://digital.ub.uni-duesseldorf.de/ihd/periodical/pageview/5612297?query=Amtsblatt%20 regierungsbezirk%20d%C3%BCsseldorf (18.6.2023, 15.37 Uhr)

Nachdem man bereits am 24. Januar einen seiner Holzschuhe zwischen Herberath und Jüchen gefunden hatte, wurde im März desgleichen Jahres Andreas Koll schließlich in einem Graben bei Jüchen erfroren aufgefunden, „nachdem die Schneemassen nach 5 Wochen abgezogen waren“. Am 3. März wurde er in Bedburdyck beigesetzt. Sein Sterbedatum wurde auf den 23. Januar festgesetzt, auf den Tag nach seinem Verschwinden. Im Sterbeeintrag des Kirchenbuchs wird er als „adolescens dilirans“ (verrückter junger Mann) bezeichnet.

Kirchenbuch Bedburdyck, Sterbeeintrag von Andreas Coll

Michael Salmann für den Geschichtsverein Grevenbroich, 2023

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert