Allrather Tanzvergnügen im August 1945

© StA Grevenbroich, Bestand Wevelinghoven, Nr. 2106

Eigentlich sollte das hier gezeigte Fundstück aus dem Stadtarchiv Grevenbroich bei den Lesern nur ein Lächeln und Schmunzeln hervorrufen, da es den Konflikt darstellt, der auch heute noch oft zwischen Jugendlichen (die ihre Freiheit und Erfahrungen suchen) und Erwachsenen (die kein Verständnis für diese Lebensweise haben) besteht.

Nach mehrmaligem Lesen traten jedoch Zweifel, Unbehagen und eine gewisse Art Nachdenklichkeit zu Tage, so dass sich der Geschichtsverein Grevenbroich dazu entschloss, gerade dieses Schriftstück auch ein wenig kritischer zu betrachten, ohne dabei Personen oder insbesondere die Lehrerschaft angreifen zu wollen.

Die von Schulrat Leines (vor 1945 Lehrer in Sinsteden; vgl. Schulchronik Elfgen, Nr. 218, Seite 250) beschriebenen „halbwüchsigen Burschen und Mädchen“ dürften im Jahr 1945 vermutlich 15 bis 16 Jahre alt gewesen sein. Die meisten Schüler verließen in jener Zeit die Volksschule bereits mit 14 Jahren. Bis zu diesem Zeitpunkt kannten sie das Leben nur unter der Diktatur des NS-Regimes. Ebenso war ihre Jugend von den schrecklichen Ereignissen des Krieges bestimmt. Vermutlich hatten viele auch einen persönlichen Verlust durch den Tod des Soldatenvaters oder durch Bombenangriffe erlitten.

Gerade im Hinblick auf die ideologische Ausrichtung von großen Teilen der Lehrerschaft während der NS-Zeit stellt sich für den Geschichtsverein Grevenbroich daher die Frage, ob der damalige Schulrat Leines eigentlich in der „Position“ war, so über die jungen Menschen zu urteilen. Waren es nicht auch Lehrer, städtische bzw. politische Amtsträger sowie Millionen von sogenannten „Mitläufern“, die dieses NS-System unterstützten und förderten? Und in welcher Weise hätten sich die Halbwüchsigen angesichts ihres Alters „schuldig“ gemacht haben können. Ein Zusammenhang zu den hunderttausenden Soldaten in Gefangenschaft oder den Millionen vertriebenen Menschen aus den Ostgebieten ist sicherlich an anderer Stelle zu suchen.

Viele Untersuchungen und Veröffentlichungen verdeutlichen heute, dass eine Vielzahl der Lehrer und Lehrerinnen bei der Indoktrinierung der Schülerschaft involviert war. Durch das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 mussten jüdische, pazifistische, sozialistische und kommunistische Lehrerinnen und Lehrer ihren Beruf aufgeben. In der Folgezeit traten 97% der Lehrerschaft dem NSLB (Nationalsozialistischen Lehrerbund) bei. Eine große Anzahl von Lehrerinnen und Lehrern wurde sogar Mitglied in der NSDAP.

In einem Interview mit Saskia Müller (Mitautorin von „Die ideologische Ausrichtung der Lehrerkräfte 1933 – 1945“ aus dem Jahr 2016) heißt es: „Die große Mehrheit der Lehrkräfte hatte eine enge Bindung an den Staat. Bereits in den 70er- und 80er-Jahren wurde festgestellt, dass diese Berufsgruppe nicht aufgrund von Arglosigkeit und Verführung zum NS überlief, sondern weil sie mehrheitlich das Interesse teilte, mit den Nazis einen starken Staat zu errichten.“[1] 

Inwieweit es auch viele Lehrerinnen und Lehrer gab, die diese Haltung nicht teilten und – wenn auch „versteckt“ – Widerstand gegen das NS-Regime leisteten, ist leider bisher nicht erforscht. Hierzu noch ein Auszug aus dem gleichen Interview:

„Niemand musste Mitglied im Nationalsozialistischen Lehrerbund (NSLB) werden. Welche Formen des Widerstands oder der Verweigerung waren Lehrkräften möglich, die sich nicht im NSLB organisierten?

Saskia Müller: Es gab abweichendes Verhalten und Widerstand Einzelner im Alltag. 1937 waren nur 3 Prozent der Lehrkräfte nicht Mitglied im NSLB. Es ist nicht erforscht, ob einzelne oppositionelle Lehrkräfte trotzdem eine NSLB-Mitgliedschaft besaßen. Im Alltag boykottierten sie Vorschriften, wehrten sich gegen ideologische Schulungen und gegen die rassistische und antisemitische Durchdringung des Schulwesens. Sie schützten jüdische Schülerinnen und Schüler, unterstützten oppositionelle Jugendliche oder zeigten sich solidarisch mit verfolgten Kolleginnen und Kollegen. Lutz van Dijk kam in seiner Untersuchung von Biografien oppositioneller Lehrkräfte auf zwei Aspekte, die die befragten Personen – im Gegensatz zu vielen anderen – gemein hatten: Fähigkeit zur Empathie und Verantwortungsübernahme für das eigene Handeln trotz möglicher persönlicher Nachteile.“[2]

Das seit vier Jahrzehnten sehr umstrittene, oft auch fehlinterpretierte bzw. missbrauchte Zitat „Gnade der späten Geburt“ spiegelt sich genau in diesem Beitrag wider. Der Geschichtsverein Grevenbroich vertritt die Ansicht, dass diese Kinder keine Schuld auf sich geladen haben. Dies schließt jedoch nicht aus, dass sie Verantwortung dafür übernehmen sollten bzw. müssen, dass von deutschem Boden solche Gewaltverbrechen niemals mehr ausgehen dürfen. Viele Grevenbroicher Schüler und Schülerinnen zeigen eben dies in unzähligen Projekten zur NS-Zeit, ohne dabei etwas zu verharmlosen oder geschönt darzustellen. „Erinnerungskultur zu pflegen und zu fördern, darf nicht bedeuten sich schuldig zu fühlen bzw. die Schuld auf sich zu nehmen.“

Stefan Faßbender für den Geschichtsverein Grevenbroich, 2023

[1]              https://www.gew-bayern.de/aktuelles/detailseite/lehrkraefte-im-nationalsozialismus; Abruf am 8. Juni 2023 um 14:50 Uhr

[2]              https://www.gew-bayern.de/aktuelles/detailseite/lehrkraefte-im-nationalsozialismus, Abruf am 8. Juni 2023 um 15.03 Uhr

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