Seid ihr auch schon mal durch euer Viertel gelaufen und habt überlegt, wer wohl der Namensgeber der ein oder anderen Straßenbezeichnung war? So ging es mir über Monate hinweg, bis ich den Namen einmal recherchierte und feststellte, dass hinter dem Namen eine sehr bewundernswerte Persönlichkeit steht.
Bei der Marie-Juchacz-Straße handelt es sich um eine kurze Stichstraße, die sich am äußeren Ende der Lindenstraße in der Grevenbroicher Stadtmitte befindet.
Marie Louise wurde am 15. März 1879 als Kind des Zimmermeisters Friedrich Theodor Gohlke und der Wilhelmine Henriette Heinrich in Landsberg an der Warthe geboren. Am 6. April 1901 heiratete sie den Schneider Bernhard Juchacz, von dem sie jedoch am 27. Mai 1911 durch das Landgericht Magdeburg geschieden wurde.
Schon Anfang der 1900er Jahre engagierte sich Marie Juchacz in sogenannten Bildungsvereinen, die den Sozialdemokratinnen als Tarnung ihrer politischen Organisationen dienten. Für Frauen war die Teilnahme an politischen Vereinen durch das Preußische Vereinsgesetz bis 1908 verboten. Erst mit dessen Aufhebung lösten sich die Frauenvereine auf und die Mehrheit der Frauen trat in die Sozialdemokratische Partei ein. Schon kurze Zeit danach entwickelte sich für Marie Juchacz eine „Bilderbuchkarriere“ in der Politik, welche sie im Jahr 1913 zusammen mit ihrer Schwester nach Köln führte. Während des Ersten Weltkriegs wurde dort die Nationale Frauengemeinschaft für Köln gegründet, die sich den Problemen von Frauen in der Kriegssituation widmete. Marie Juchacz wurde u. a. in einen Ernährungsausschuss gewählt, der für die Verteilung der rationierten Lebensmittel zuständig war. 1917 übernahm sie die Stelle der zentralen Frauensekretärin der SPD in Berlin und wurde nach einer Abspaltung als einzige Frau in den Vorstand der MSPD (Mehrheitssozialdemokratie) gewählt. Im Januar 1919 wurden sie und ihre Schwester in die Verfassungsgebende Versammlung der Weimarer Republik gewählt.[1]
Am 19. Februar 1919 hielt sie – als erste Frau überhaupt – eine Parlamentsrede in Deutschland.
„[…] Sie begann mit der Anrede: Meine Herren und Damen! – ein Akt der Höflichkeit, den das Parlament mit Heiterkeit quittierte. […]“ Auch wenn die Anrede bzw. die Vertauschung von „Herren“ und „Damen“ Heiterkeit auslöste, handelte es sich wohl um eine ganz bewusste Entscheidung von ihr. Sie wollte damit deutlich machen, dass es auch in der Anrede eine Gleichberechtigung gibt. Peinlich – zumindest für die Männerwelt damaliger Zeit.[2]
1919 setzte sie ihre Idee um, eine sozialdemokratische Wohlfahrtspflege zu gründen. Am 13.12.1919 rief sie den „Hauptausschuss für Arbeiterwohlfahrt“ beim Parteivorstand der SPD ins Leben und übernahm den Vorsitz in der Arbeiterwohlfahrt. Damit wurde sie zur Begründerin der heutigen AWO. In den 1920er Jahren rückte ihre Tätigkeit bei der Arbeiterwohlfahrt zunehmend in den Vordergrund.
Um einer Vereinnahmung durch die NSDAP zu entgehen, löste sich die Arbeiterwohlfahrt mit Hitlers Machtübernahme 1933 selbst auf. Juchacz ging daraufhin in das Saarland und floh mit der Wiedereingliederung des Saarlandes ins Deutsche Reich weiter in das Elsass, wo sie im Widerstand und später bei der AWO ins Paris mitarbeitete. Mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs setzte sie ihre Flucht über Südfrankreich und Martinique in die USA fort. Dort baute sie die „Arbeiterwohlfahrt – Opfer des Nationalsozialismus New York“ auf. Erst Anfang 1949 kehrte sie wieder nach Deutschland zurück. Im veränderten Nachkriegsdeutschland war sie bis zu ihrem Tod im Jahr 1956 Ehrenvorsitzende in der AWO.[3]
Der Beschluss zur Straßenbenennung erfolgte mit Sitzung am 13. September 2018 durch den Rat der Stadt Grevenbroich. In der öffentlichen Bekanntmachung der Stadt Grevenbroich ist leider keine Begründung zur Namensvergabe enthalten, wenn auch die Biografie von Marie Juchacz für sich spricht.
In gleicher Sitzung wurde noch ein weiterer Beschluss über eine Straßenbenennung in Grevenbroich gefasst, über die wir in den nächsten Wochen auch noch berichten werden. Auch wenn es sich dabei ebenfalls um eine faszinierende Frau der deutschen Geschichte handelt, darf hier noch kurz angemerkt und gefragt werden, warum bisher keine Straßen nach Grevenbroicher Frauen benannt wurden. Lediglich der neu geschaffene „Dr.-Elfriede-Cohnen-Weg“ bildet hierbei eine Ausnahme und leitet nun hoffentlich eine Wende im Grevenbroicher Straßenwesen ein.
Stefan Faßbender für den Geschichtsverein Grevenbroich, 2023
[1] https://awo.org/index.php/ueber-uns/awo-historie/personen/marie-juchacz; Abruf 11. April 2023 um 16.18 Uhr
[2] https://www.koeln-lotse.de/2019/05/25/marie-juchacz-powerfrau-und-gruenderin-der-awo/; Abruf 11. April 2023 um 22.12 Uhr
[3] https://awo.org/index.php/ueber-uns/awo-historie/personen/marie-juchacz; Abruf 11. April 2023 um 16.18 Uhr
Schöner Bericht . Frauen Geschichte näher gebracht . Danke