1834 entzündete sich an dem ungeklärten „Neuenhovener Kindesmord“ ein Judenpogrom, wie es seit dem 14. Jahrhundert in der Region nicht mehr vorgekommen war. Seit dem 13. Juli 1834 vermissten die Eltern des fünfjährigen Peter Wilhelm Hoenen aus Neuenhoven ihren Sohn. Sie hatten ihn zum sonntäglichen Markt ins benachbarte Bedburdyck geschickt. Zwei Tage später wurde das Kind erstochen in einem Roggenfeld gefunden. Im amtlichen Obduktionsprotokoll gingen die Ärzte auch von sexuellem Missbrauch aus, ein Verdacht, von dem die Öffentlichkeit allerdings nichts erfuhr.
Sterbeeintrag des 5-jährigen Peter Wilhelm Hoenen[1]
Da der Mord nicht aufgeklärt wurde, brachten Antisemiten das Gerücht in Umlauf, die Juden hätten das Kind getötet. Sie behaupteten, mit dem Blut des Jungen würden die jüdischen Gemeinden geheimnisvolle Opferriten zelebrieren. Dieses Ritualmord-Märchen stammte bereits aus dem Mittelalter. Ein Grund für seine Verbreitung mag auch noch im 19. Jahrhundert der Neid auf den wirtschaftlichen Erfolg der jüdischen Händler gewesen sein. Dieser Mord wurde zu einem Signal für ein Pogrom gegen Juden. Wie groß die Erregung war, zeigte sich an dem Auflauf in dem kleinen Neuenhoven, welches damals nur 235 Einwohner zählte, in dem aber 4.500 Menschen zusammengeströmt waren. Als aus dem benachbarten Odenkirchen herbeigerufene, dort zufällig untergebrachte Husaren, gegen 11 Uhr abends notdürftig für Ruhe gesorgt hatten, zog ein Haufen des Mobs nach Bedburdyck, wo sie in die Synagoge eindrangen, Fenster und Einrichtung zertrümmerten und die Thorarolle an der Dorfhecke verbrannten.[2] Dazu muss man wissen, dass die Thora – die fünf Bücher Moses aus dem alten Testament – eine handgeschriebene Rolle aus Pergament ist, aus der in jüdischen Gottesdiensten vorgelesen wird. Sie gehört zur Grundausstattung jeder Synagoge und wird nach dem Gebrauch im Thoraschrein aufbewahrt. Da eine solche Rolle den Gottesnamen enthält, wird sie vor allen fremden Blicken geschützt.[3]
Damit wird klar, dass die Thorarolle einen hohen religiösen Wert für Menschen jüdischen Glaubens hat. So kann man sich vielleicht vorstellen, wie schrecklich die Vernichtung der Thorarolle für die Bedburdycker Juden gewesen sein muss. Wie ein Flächenbrand breitete sich nun die Pogromstimmung aus. In vielen Nachbarorten von Neuenhoven wie auch in (Mönchen-) Gladbach kam es zu Menschenaufläufen. Nur rasch gebildete Bürgerwachen und Husarenpatrouillen konnten schlimmere Übergriffe verhindern. “Hep! Hep!“ rief der Mob vor den Häusern jüdischer Mitbürger. Das Schimpfwort stand für die lateinische Abkürzung „Hierosolyma est perdita“ („Jerusalem ist verloren“).[4]
Im Kreis Grevenbroich ließ der damalige Landrat Paul Joseph von Pröpper noch am 21. Juli in allen Orten, in denen Juden wohnten, Sicherheitswachen bilden. Der Düsseldorfer Regierungspräsident, der am darauffolgenden Tag selbst nach Neuenhoven kam, sah die Lage jedoch für so bedrohlich an, dass er weitere berittene Truppen anforderte, die noch am gleichen Tag eintrafen. Wie berechtigt die Befürchtung des Regierungspräsidenten war, zeigte sich am späten Abend, als einrückende Soldaten in Grevenbroich die Straßen säubern mussten, weil eine hundertköpfige Menge, die mit Gewehren und Heugabeln bewaffnet war, in den Straßen randalierte und die Juden bedrohte. In Wevelinghoven herrschten bürgerkriegsähnliche Zustände.
Auch in Neuss kam es zu schweren Unruhen, die durch eine militärische Besetzung der Stadt unterdrückt werden mussten. In Garzweiler grölten am 10. August 1834 Unbekannte nachts „Die Juden müssen zum Dorf hinaus“ und bewarfen das Haus des Juden Kaufmann mit Steinen.
Der Regierungspräsident fand schließlich auf eine sehr bemerkenswerte Weise eine politische Lösung. Die Bürgermeister des Kreises beriefen in den letzten Augusttagen die gehobene Bürgerschicht oder auch alle Bürger zu Versammlungen ein, auf denen diese sich schriftlich zum Schutz der Juden verpflichten mussten. Die Wirkung dieser Selbstverpflichtung war verblüffend. Als in Hemmerden am 7. September und in Bedburdyck einige Tage später erneut Tätlichkeiten gegen Juden vorkamen, konnten in diesen Orten erstmalig die Täter durch die Einwohner dingfest gemacht werden. Professor Kirchhoff vermerkt hierzu, dass es auffällig sei, wie plötzlich die Dorfgemeinschaften, die bislang eher stummfeindselig der preußisch-fremden Ordnungsmacht gegenübergestanden hatten, nun dem Spuk ein Ende bereiten konnten, sobald sie in eine gleichsam notariell beurkundete Pflicht genommen wurden. Es bestehe kaum ein Zweifel, dass sich das 1834 von Neuenhoven ausgehende Pogrom zu einer gewaltigen Judenverfolgung entwickelt hätte, wenn die preußischen Behörden nicht so schnell und entschlossen gehandelt hätten.[5] Bedburdyck und Stessen wurden vom 25. August bis 10. September mit 100 Mann Soldaten belegt. Nach deren Abzug mussten noch längere Zeit Sicherheitswachen die Juden schützen.[6]
Michael Salmann für den Geschichtsverein Grevenbroich, 2023
[1] Salmann, Auszug aus dem Sterberegister des Kirchenbuchs von Bedburdyck 1804-1847
[2] Kirchhoff, Geschichte der ehemaligen Gemeinde Garzweiler, 1989, S. 97
[3] Wikipedia, Thora
[4] von Leszczynski, Am Rand der großen Industrie: Die Bürgermeisterei Jüchen 1845 bis 1914, Band 5 der Geschichte der Gemeinde Jüchen, 1999, S. 91
[5] Kirchhoff, Geschichte der ehemaligen Gemeinde Garzweiler, 1989, S. 101
[6] Giersberg, Die Geschichte der Pfarreien im Dekanat Grevenbroich, 1883
Wieder ein sehr interessanter Artikel mit einer Menge an Details. Ist schon faszinierend, was so alles hier in unserer Gegend passiert ist. Vielen Dank an den Verfasser.