Ein „Erlebnisbericht“ aus der Familienchronik von Stefan Faßbender (Arbeitskreis Familienforschung)
Oder auch
– warum es nie wieder Krieg geben darf!
– warum Ahnenforschung eigentlich die Erforschung von Familiengeschichten und Familienschicksalen ist!
Eine der bewegendsten und traurigsten Geschichte in meiner Familienchronik war die Erforschung des Lebens meines Großonkels Richard Boenisch aus Gross-Schnellendorf in Oberschlesien. Es hat mehr als 70 Jahre gedauert, den Verbleib des Bruders meines Großvaters zu klären.
© Stefan Faßbender
Mit Beginn meiner Ahnenforschung vor 20 Jahren sammelte ich eigentlich nur Daten und Bilder aus der Familie. Dabei stieß ich auf ein altes Hochzeitsfoto aus dem Jahr 1925 auf dem ein Ehepaar mit Kind zu sehen war, welches ich aber nicht zuordnen konnte. Schnell stellte sich heraus, dass es sich um einen Großonkel mit Familie von mir handelte. Jedoch konnte mir niemand irgendwas über die Personen, deren Leben oder Verbleib sagen. Nach vielen und langwierigen Recherchen konnte ich jedoch das oben gezeigte Kind ausfindig machen und Kontakt mit ihm aufnehmen. Es war ein Großcousin von mir, der bereits älter als 80 Jahre alt war. Trotz seines hohen Alters und seiner Lebensgeschichte war er bereit, mir ausführliche Auskünfte über sich, seine und unsere Familien zu geben.
Die mir unter nicht endenden Tränen geschilderte Lebensgeschichte möchte ich daher in kurzen Auszügen darstellen:
„Da ich mich selbst noch in Kriegsgefangenschaft befand, kann ich die Geschehnisse aus dem März 1945 nur so weitergeben, wie sie mir erzählt wurden. … Mein Vater Richard und seine Frau Anna lebten und arbeitete auf ihrem Hof in Holzmühle (Gross-Schnellendorf). … Mit dem Einmarsch der russischen Armee in Oberschlesien wurde mein Vater als gewöhnlicher Zivilist nach Russland verschleppt. … Dort soll er dann verstorben sein. … Mein Bruder Helmut war Soldat. Über seinen Verbleib kann ich leider nichts sagen. Vermutlich ist er als Soldat irgendwo verstorben. … Meine Mutter starb wohl an einem Herzinfarkt als die russische Armee die letzte Kuh aus dem Stall holen wollte. … Ein Sterbeeintrag oder ein Grab war jedoch nie zu finden….“
Diese Worte und die Traurigkeit eines alten Mannes, der zeitlebens auf der Suche nach seinen Familienangehörigen war, haben mich damals so sehr bewegt und ergriffen, dass ich mich seit diesem Zeitpunkt immer wieder auf die Suche nach der Familie gemacht habe. Letztendlich bedurfte es dann aber mehr als 15 Jahre und viel Glück, bis ich zumindest das Schicksal von Richard Boenisch klären konnte.
Aus einer nicht mehr nachzuvollziehenden „Laune“ heraus stellte ich beim Deutschen Roten Kreuz eine Suchanfrage zu meinem Großonkel. Eigentlich hatte ich die Erwartung dort keine Ergebnisse erzielen zu können, da mein Großcousin in den Nachkriegsjahren bereits immer wieder negative Mitteilungen von dort erhalten hatte. Dass die sogenannten „Geheimakten“ der Sowjetunion vor einigen Jahren von der Ukraine an das Deutsche Rote Kreuz übergeben wurden und seitdem ausgewertet werden, wusste ich zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht. Nachfolgenden Brief mit der Kopie der Gefangenenakte, die von mir aus dem Russischen übersetzt wurde, erhielt ich nach nur einigen Wochen.
© Stefan Faßbender
Die fast drei Wochen dauernde und über 1.300 km entfernte „Reise“ von Friedland (heute Korfantow) nach Odessa in der Ukraine, wird ihn bereits so geschwächt haben, dass er im Arbeitslager keine zwei Monate überlebte und am 06. Juni 1945 an Unter- bzw. Fehlernährung starb.
Meine bisherigen Recherchen ergaben, dass eine Unmenge deutscher Zivilisten und Soldaten zur Zwangsarbeit nach Odessa „verschleppt“ wurden. Grund hierfür war das Verlangen nach schnellem Wiederaufbau der Hafenanlagen in Odessa, die durch deutsche Kriegshandlungen fast vollständig zerstört wurden. Die Sowjetunion benötigte diesen Seezugang dringend zum Wiederaufbau ihres Landes und auch zur Verstärkung ihrer militärischen Macht. Genaue Informationen über die einzelnen Arbeitslager sind nur schwerlich zu bekommen, da durch die Vielzahl von Sterbenden innerhalb von kurzer Zeit, Lager immer wieder zusammengelegt wurden und eine neue Nummer bekamen. Genauere Schätzungen, wie viele Menschen diese Gefangenschaft überlebt haben, gehen sehr auseinander und können mit keiner Verlässlichkeit wiedergegeben werden. Fakt ist jedoch, dass es in Odessa eine enorm hohe Sterblichkeitsrate von bis zu 90% gab.
In dem mehr als fünf Jahre lang dauernden Krieg haben die Wehrmacht und SS den größten Teil Europas besetzt, ausgeplündert und auf ihrem Rückzug verwüstet. Mit der später als „Nerobefehl“ bekanntgewordenen Taktik der verbrannten Erde vom 19. März 1945 (zugleich der Tag an dem die russische Armee den Heimatort meiner Großeltern erreichte), wurden die Zerstörungsmaßnahmen auch auf die Infrastruktur auf deutschem Boden ausgeweitet, obwohl die Niederlage des Krieges bereits unausweichlich war. Die sogenannten „ALRZ Maßnahmen“ in den besetzten Gebieten, die wie zum Beispiel in der Sowjetunion bereits zu zahlreichen Zerstörungen und Kriegsverbrechen geführt hatten, sorgten so dafür, dass noch viele Soldaten und Zivilisten gegen Ende dieses völlig sinnlosen Vernichtungskrieges absichtlich in Tod, Gefangenschaft und Endphasenverbrechen geschickt wurden.
So etwas darf nie wieder passieren!
Meinem Großcousin konnte ich dieses Suchergebnis und die Gewissheit über den Verbleib seines Vaters leider nicht mehr mitteilen, da er bereits kurze Zeit nach unserem Gespräch verstarb.
Meine Suchen nach der Mutter und dem Bruder führten bisher zwar nicht zu einem Ergebnis, zeigen mir aber, dass Ahnenforschung sehr spannend, bewegend und vieles Mehr sein kann, als nur das Sammeln von Fakten.
Toller Beitrag, das ist quasi das Salz in der Suppe bei der Familienforschung.
Leider bietet sich nicht jedem die Gelegenheit solche interessanten Aspekte zu entdecken.
Gut recherchiert.
Hallo Stefan,
Ich wusste gar nicht, welche intensiven Forschungen du betrieben hast.
Ganz toll recherchiert und beschrieben. Glückwunsch zu dem Artikel.
Von einer Freundin weiß ich, dass ihr Vater jahrelang nach dem Verbleib seines Bruders bei allen möglichen Behörden gefragt hat. Dem Sohn meiner Freundin ist es nun gelungen etwas zu finden. Der Familienname ist Samuel, gefunden wurde er nun unter Samül. Also auch auf unterschiedliche Schreibweise achten.
Veranschaulicht sehr gut wie interessant und spannend Familienforschung sein kann.