Wer war Theodor Litzkendorf?

Ein mysteriöser Grabsteinfund in Gustorf!

Ein in Gustorf gefundener Grabstein gibt dem Arbeitskreis Familienforschung im Geschichtsverein Grevenbroich große Rätsel auf!

Foto: (c) Heinz-Willi Herwagen

Zeichnung: (c) Heinz-Willi Herwagen

Der Grabstein wurde im Frühjahr 2014 bei Gartenarbeiten von Walter und Torsten Wilke in Gustorf gefunden. Nach eigenen, aber ergebnislosen, Nachforschungen im Dorf und bei den ehemaligen Bewohnern des Hauses, wandte sich die Familie Wilke im Herbst 2022 an den Arbeitskreis Familienforschung, um etwas über den wundersamen Fund im eigenen Garten herauszufinden.

Wer war Theodor Litzkendorf? Warum wurde sein Grabstein in einem Garten in Gustorf vergraben? Gibt es noch Familienangehörige in Grevenbroich? Was macht man mit dem gefundenen Grabstein? Warum ist der Name im ganzen Ort absolut unbekannt? Stand der Grabstein vielleicht einmal auf dem alten Friedhof an der Gustorfer Kirche?

Für den Arbeitskreis sollte dies doch eigentlich eine leichte Aufgabe sein?! Immerhin wurde in den letzten Jahren eine umfangreiche Datenbank mit mehreren Millionen Einträgen aus noch vorhandenen Kirchenbüchern und Personenstandsregistern im Großraum um Grevenbroich erstellt. So war die Vorstellung der Mitglieder im Arbeitskreis, die davon ausgingen, dass es sich um einen ehemaligen Grabstein vom Gustorfer Friedhof handelte. In den Millionen Einträgen wurde der Name „Litzkendorf“ jedoch nicht ein einziges Mal gefunden.

Das „Nichtvorhandensein“ irgendeiner Information, veranlasste die Mitglieder Heinz-Willi Herwagen, Manfred Kasper und Stefan Faßbender auf weitere Spurensuche zu gehen. Hierzu wurden sowohl nationale wie auch internationale Datenbanken durchsucht, um der Familie Wilke überhaupt irgendeine Information geben zu können.

Die erste Spur fand sich in den Geburtsregistern des Standesamtes Oschersleben.

Auszug aus der Geburtsurkunde von Theodor Litzkendorf.[1]

Oschersleben befindet sich im Landkreis Börde in Sachsen-Anhalt und ist ungefähr 450 km von Grevenbroich entfernt. Diese Entfernung zwischen Geburts- und Sterbeort ist für Ahnen- und Familienforscher nichts Außergewöhnliches, denn auch viele unsere Vorfahren mussten sich bereits sowohl den politischen als auch wirtschaftlichen Verhältnissen ihrer Zeit anpassen und durchaus auch einmal den Mittelpunkt ihres Lebens in andere Regionen verlegen.

Mit der Erforschung der eigenen Familie lässt sich in vielen Fällen durch die Angabe der Berufe in Urkunden auch eine regelrechte „Wanderbewegung“ der Vorfahren erkennen. Diese „Wanderungen“ waren der Weiterentwicklung der Industrialisierung und der Konzentration bestimmter Berufsgruppen auf einzelne Gebiete geschuldet. So kann man dies z. B. bei dem Beruf des Webers nachvollziehen, denn im 19. Jahrhundert konzentrierte sich dieser Berufsstand in unserer Gegend besonders im Raum Mönchengladbach. Mönchengladbach galt damals als das Zentrum der Baumwollindustrie in Westdeutschland und wurde als das „rheinisches Manchester“ bezeichnet. So lässt sich z. B. im Stammbaum von Stefan Faßbender nachweisen, dass die Vorfahren, die als Weber arbeiteten, vermutlich bedingt durch Arbeitssuche und fehlende öffentliche Verkehrsmittel, im Laufe der Jahrzehnte aus dem Bedburger Gebiet über Grevenbroich immer mehr in den Mönchengladbacher Raum übersiedelten.

Nach dem Fund der Geburtsurkunde stellte sich für die Ahnenforscher nun die Frage, wie sie eine Brücke nach Grevenbroich und insbesondere Gustorf darstellen können. Ein sogenannter Randvermerk über eine Heirat, den Tod oder Wegzug, welcher auf Grevenbroich hindeuten könnte, war auf der Urkunde nicht zu finden. Auch der Beruf des Vaters, Robert Litzkendorf, ein Schlosser, ergab zunächst keinen Hinweis darauf, dass es ein berufsbedingter Umzug in unsere Gegend gewesen sein konnte. Ebenso blieben die Recherchen im Stadtarchiv Grevenbroich, die von der Stadtarchivarin Frau Schulte intensiv unterstützt wurden, erfolglos.

Damit blieb nur noch die Möglichkeit, sich internationaler Datenbanken zu bedienen, um den Weg der Familie Litzkendorf von Oschersleben nach Grevenbroich nachvollziehen zu können. Die zunächst spontanen und nicht mit großer Hoffnung verbundenen Recherchen brachten jedoch nach kurzer Zeit den gewünschten Erfolg. Das Ergebnis war ziemlich erstaunlich und ungewöhnlich, denn die nächste Spur fand sich im holländischen Steenbergen.

Steenbergen liegt in der Provinz Noord-Brabant und grenzt an Zeeland und Zuid-Holland. Der Ort ist durch die Landwirtschaft (Viehzucht und Ackerbau) geprägt. Hier ist insbesondere der Anbau von Zuckerrüben zu nennen. Die Industrie spiegelt sich bedingt durch den Zuckerrübenanbau in einer großen, heute noch vorhandenen, Zuckerrübenfabrik wider.

Gemäß der oben gezeigten Bevölkerungsliste zog die Familie Litzkendorf am 27. April 1894 in die Gemeinde Steenbergen und verließ sie am 29. März 1897 wieder. Die Familie bestand aus folgenden Personen:

  1. Vater Robert Litzkendorf, *4. Februar 1857 in Hockeborn [richtig: Hakeborn], Mechaniker
  2. Mutter Maria Fausten, *13. März 1853 in Neuss
  3. Kind Robert Litzkendorf, *26. Juni 1880 in Bleckendorf
  4. Kind Otto Litzkendorf, *20. August 1885 in Egeln
  5. Kind Theodor Litzkendorf, *20. Februar 1888 in Oschersleben
  6. Kind Maria Litzkendorf, *10. Mai 1890 in Oschersleben

Nach weiteren Recherchen in den Niederlanden wurden die Familienforscher im „Wijkregister Steenbergen“ (Bezirksregister) fündig. Danach wohnte bereits 1889 ein R. Litzkendorf (vermutlich der Vater Robert Litzkendorf) schon mal in Steenbergen. Er war in Kade, ein Stadtteil von Steenbergen, in dem Haus Nr. A85 registriert. Eigentümer war die „Van Loon de Ram & Co.“, die gleichzeitig auch die Betreiberin der Zuckerrübenfabrik war.[2] Die erste Zuckerrübenfabrik wurde 1871 in Steenbergen gebaut.[3]

Bevölkerungsliste aus Steenbergen

Ob der Vater, Robert Litzkendorf, wirklich als Schlosser bzw. Mechaniker in der Zuckerrübenfabrik in Steenbergen beschäftigt war, lässt sich zurzeit nicht abschließend verifizieren. Die bisher gefundenen Hinweise lassen diese Vermutung jedoch zu. Eine andere Möglichkeit wäre auch, dass er als Monteur einer deutschen Firma immer wieder zu Reparatur- bzw. Bauarbeiten ins Ausland geschickt wurde. Dies würde zumindest erklären, warum die oben gezeigte Bevölkerungsliste lediglich den Zeitraum von 1894 bis 1897 darstellt und er bereits 1889 schon mal dort lebte. Der Beruf der weiteren oben aufgeführten Personen, Johann Sonneborn und Chr. J. Köcker, war ebenfalls Maschinist. Johann Sonneborn stammte aus Magdeburg und Chr. J. Köcke aus Schermcke bei Oschersleben. Der gemeinsame Wohnort in den Niederlanden als auch die Heimatstädte lassen die Vermutung zu, dass sie gemeinsam als Monteure nach Steenbergen kamen.

Eine Postkarte, die die Zuckerrübenfabrik in Steenbergen im Jahr 1903 darstellt, ist unter nachfolgendem Link zu finden. Aus rechtlichen Gründen darf diese hier nicht direkt abgebildet werden.

https://westbrabantsarchief.nl/collectie/beeldbank/detail/cec216c8-3fb4-44c6-98d2-c548f4dd7523/media/2840e79c-d495-4041-a0ce-0f0fa6b3bf58;

Die erste von Deutschen in Steenbergen gebaute Zuckerfabrik lässt sich erst im Jahr 1911 durch die Braunschweiger Maschinenbauanstalt[4] nachweisen. Im gleichen Jahr wurden von ihr auch die Zuckerfabriken in unserer Gegend – Dormagen, Jülich und Elsdorf – erbaut. Allerdings wurden von ihr und der Vorgängergesellschaft „Seele & Co.“ bereits bis zum Ende des Geschäftsjahres 1894/1895 insgesamt 71 Zuckerfabriken weltweit errichtet.[5] Ob die im Jahr 1871 erbaute Zuckerrübenfabrik in Steenbergen auch dazu gehört, bleibt zurzeit offen., wurde aber im niederländischen Archiv angefragt. Nach Auskunft des Vorstandes der heutigen BMA Braunschweiger Maschinenanstalt AG sind weder Bauunterlagen noch Personallisten aus der Zeit bis Ende des 19. Jahrhunderts vorhanden. Allerdings konnte bestätigt werden, dass seit den 1860er Jahren bereits ganze Zuckerrübenfabriken sowohl national und international gebaut wurden. Dazu wurden deutsche Monteure auch schon zur damaligen Zeit ins Ausland geschickt, was die oben geäußerten Vermutungen bestärken würde.

Noch interessanter war mit Neuss der Geburtsort der Mutter Maria Fausten, der nun auch den näheren Bezug zu Grevenbroich darstellte. Die Recherchen im Stadtarchiv Neuss führten zu folgenden Ergebnissen:

1) Anna Maria Fausten wurde am 13. März 1853 als Kind von Jacob Leonhard Fausten und Christina Henriette Cremer in Neuss geboren. Sie starb im Alter von 60 Jahren am 30. September 1913 in Neuss. Anzeigender des Sterbefalls war ihr Ehemann Robert Litzkendorf. Im Jahr 1913 lebten sie auf der Industriestraße 12. Eine Heiratsurkunde zwischen Robert Litzkendorf und Anna Maria Fausten wurde in den Standesamtsregistern Neuss leider nicht gefunden.

2) Robert Adolf Karl Litzkendorf, *28. Juni 1880 in Bleckendorf (Kreis Wanzleben), heiratete am 3. August 1908 Anna Maria Hüsgen im Standesamt Neuss.

3) Otto Leonhard Litzkendorf, *20. August 1885 in Egeln (Kreis Wanzleben), heiratete am 19. Juni 1908 Elisa Antonetta Schmitter im Standesamt Neuss.

4) Der oben auf dem Grabstein genannte Theodor Litzkendorf starb im Alter von nur 27 Jahren am 12. November 1915 in Neuss. Sein Tod wurde leider ohne Todesursache im Standesamt Neuss dokumentiert. In den Verlustlisten des Ersten Weltkriegs ist Theodor nicht genannt. Er war auch nicht verheiratet.

Auszug aus der Sterbeurkunde von Theodor Litzkendorf[6]

5) Über den Verbleib von Maria Litzkendorf, *10. Mai 1890 in Oschersleben (Landkreis Börde), kann zurzeit nichts berichtet werden. Allerdings war ihr richtiger Vorname laut Geburtsurkunde Elisabeth Minna Marie.

Um noch etwas mehr über diesen wohl sehr ungewöhnlichen Fall zu erfahren, möchte sich der Arbeitskreis Familienforschung im Geschichtsverein Grevenbroich und Umgebung e. V. nun an alle Grevenbroicher und Neusser Einwohner*innen wenden. Vielleicht gibt es noch Nachkommen aus den oben genannten Familien im Rhein-Kreis Neuss oder der näheren Umgebung und es können uns weitere Umstände zu dieser doch sehr ungewöhnlichen „Reise“ der Familie Litzkendorf berichtet werden.
Über eine Kontaktaufnahme, insbesondere im Namen der Familie Wilke, würde sich der Arbeitskreis Familienforschung sehr freuen. Eine selbstverständlich vertrauliche Kontaktaufnahme kann unter nachfolgender Mailanschrift erfolgen:
familienforschung-grevenbroich@t-online.de 

 

[1]             https://www.ancestry.de/imageviewer/collections/61713/images/48823_oschrlb%5Ea%5E1888-00081?treeid=&personid=&rc=&usePUB=true&_phsrc=uuJ391&_phstart=successSource&pId=1009

[2]              https://www.wijkregistersteenbergen.nl/index.php?do=go_search&keyword=Fabrieksdijk%202

[3]             https://www.wijkregistersteenbergen.nl/index.php?do=details&id=14

[4]              heute: BMA Braunschweiger Maschinenbauanstalt AG

[5]              http://www.albert-gieseler.de/dampf_de/firmen0/firmadet538.shtml

[6]             Landesarchiv NRW, Abt. Rheinland, R_PA_3103_22034_0140.jpg

4 Gedanken zu „Wer war Theodor Litzkendorf?“

  1. Sehr schöne Arbeit und gut geschriebener Text. Vielen Dank für das Engagement von allen Beteiligten. Vielleicht findet sich ja eine weitere Spur. Mich würde es sehr freuen:-).

  2. Toll, dass das hat sich gelesen wie ein Roman, ein sehr spannendes Thema die Ahnenforschung, machen Sie weiter so.

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