Ein kleines Tier mit einer sehr interessanten und bedeutungsvollen Geschichte…
Eigentlich wollten der Geschichtsverein Grevenbroich und das Stadtarchiv Grevenbroich nur kurz zwei Fundstücke aus dem Wevelinghovener Archivbestand zeigen, aber „Geschichte“ kann so interessant und spannend sein, dass es nun doch wieder ein etwas längerer Beitrag zur Stadtgeschichte geworden ist.
Ursprünglich sollte nur dargestellt werden, dass Kinder auch in den großen Ferien zum „Zwangsdienst“ verpflichtet wurden und dies sogar von der Polizeiverwaltung angeordnet wurde.
Hierzu stand den „Kartoffelkäfersuchenden“ sogar ein Flugblatt bzw. eine Kartoffelkäfer-Fibel zur Verfügung, welche in Abbildungen den Unterschied zu den nützlichen Marienkäfern darstellte.
Noch interessanter wird diese „Kartoffelkäfer-Geschichte“ aber, wenn man sich den Verlauf der letzten Jahrhunderte näher anschaut. Die Kartoffel hatte ihren Ursprung in Lateinamerika und gelangte im 16. Jahrhundert nach Europa. Durch neue Forschungsergebnisse wurde mittlerweile belegt, dass in Deutschland bereits 1647 Kartoffeln auf großen Feldern in Pilgramsreuth in Bayern erstmalig angebaut wurden. Bisher galt der 24. März 1756 mit dem Erlass des „Kartoffelbefehls“ durch Friedrich II. als Beginn des Kartoffelanbaus in Deutschland. Angeblich ließ der „Alte Fritz“ die Kartoffeläcker von Soldaten bewachen, um die Landbevölkerung neugierig auf die noch sehr unbekannte Feldfrucht zu machen, da man ja nur etwas „Wertvolles“ durch Soldaten bewachen lassen würde. Erst mit dem intensiven Anbau konnten die größten Hungersnöte in Deutschland eingedämmt werden.
Da die Grevenbroicher Schulchroniken erst in den 1870er Jahren beginnen, ist über den Beginn des Kartoffelanbaus in Grevenbroich selbst nichts zu finden. Der erste Eintrag findet sich am 29. Januar 1875 in der Schulchronik Elfgen und dies mit einer erschreckenden Vorahnung, was uns auch heute mehr als 150 Jahre später noch immer beschäftigt.
„Im Reichstage zu Berlin wird das von Dr. Buhl vorgelegte Gesetz, betreffend Maßregeln gegen die Reblaus Krankheit (Phylloxera vastatrix), genehmigt. Man befürchtet allgemein die Einschleppung des Coloradokäfers aus Nordamerika (Doryphora decemlineata) desgl. der Motten Peronosfrera infestans und Bryotropha solanella.“
Tatsächlich dauerte es keine drei Jahre, bis der erste Coloradokäfer in Deutschland nachgewiesen werden konnte, der nun den Nahrungsmittelbedarf sowohl auf dem Land als auch in den Städten gefährden würde.
„Juni 21. In Mülheim a. Rhein, auf dem Kartoffelacker eines Metzgers, der amerikanisches Fleisch verkauft, zeigt sich der Kartoffelkäfer (Doryptroca Decemlineata) wohl der erste Fall auf europäischem Boden. Kartoffelbau sehr gefährdet.“
Da vor 100 Jahren noch keine Chemie zur Bekämpfung der Käfer eingesetzt werden konnte, versuchte man durch gezieltes Aufsammeln der Käfer dieser Plage Herr zu werden. In vielen der verschiedenen Ortsschulchroniken lassen sich Einträge finden, in denen insbesondere Schüler und Schülerinnen für diese Arbeit herangezogen wurden. Exemplarisch werden hierzu vier Einträge wiedergegeben.
„14.5.1936. Tagung der Schulleiter im Saale Breuer – Grevenbroich unter Leitung von Herrn Kreisschulrat Scheuten, der seine Lehrer „Kameraden“ anredete. Er konnte von frohem, verantwortungsbewussten Schaffen in den Schulen seines Bezirks, des Schulaufsichtsbezirks Grevenbroich – Neuss I berichten und weckte durch seine aufmunternden, arbeitsbegeisternden Worte neuen Eifer. […]. Landwirtschaftsrat Hömberg sprach über den Kartoffelkäfer, der vor unseren Grenzen stehe.“ (StA Grevenbroich, Schulchronik Elfgen, Band 4, Sig. 217, Seite 115f.)
Am erschreckendsten dürfte hierbei der Eintrag aus der Schulchronik Kapellen vom Mai/Juni 1944 sein, da die Kinder trotz großer Gefahr noch immer auf die Felder geschickt wurden.
„Die Angriffe der Feinde mehren sich in den Monaten Mai u. Juni. Feindliche Tiefflieger zeigen sich und greifen die Bevölkerung auf den Feldern mit ihren Bordwaffen an. Es ist deshalb das Verbot ergangen, daß bei Arbeiten auf den Feldern durch die Schulkinder, klassenweise nicht mehr erfolgen darf. Bei der Kartoffelkäfersuche sollen nicht mehr als 6 Kinder herangezogen werden.“
Kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs löste die Sichtung von Kartoffelkäfern wohl Panik aus, wie nachfolgender Eintrag zeigt: „Die Schanzer hatten unsere Felder und Gärten durchwühlt. Mädchen und Frauen hatten sie zuwerfen müssen. […]. Jetzt sollen die Schulkinder der oberen Jahrgänge den Rest der Gräben einebnen. Täglich lassen wir seit dem 23. Mai 45 die größeren Kinder zur Schule kommen. Die Mädchen suchen Frühkartoffelfelder nach dem Kartoffelkäfer ab, die Jungen räumen an der Schule auf. Zu allem Überfluss tritt der Kartoffelkäfer sehr zahlreich auf. Am 13. Mai 1945 brachte der Schüler Hans Müller einen Käfer zu mir. Ich alarmierte den Ortsbürgermeister Wolff, und als ich zurückkam, brachten Schuljungen, die ich unterwegs angetroffen hatte, 28 Stück. Seitdem ist Elfgen im Alarmzustand. Das hat uns gerade noch gefehlt!“ (StA Grevenbroich, Schulchronik Elfgen, Band 5, Sig. 218, Seite 248)
„Juni 1945. Die Schulen unseres Kreises waren noch immer geschlossen. Vom Herrn Schulrat Sasse aus Grevenbroich kam nun das erste Rundschreiben an die Schulen. – Die Lehrer wurden aufgefordert, die Kinder zu sammeln und sie mehrmals wöchentlich zu Heilkräutersammeln und Kartoffelkäfersuchen auf die Felder zu führen.“ (StA Grevenbroich, Schulchronik Hülchrath, Sig. 360)
Sehr interessant ist die Sicht auf den Kartoffelkäfer während der beiden Weltkriege sowie während des Kalten Krieges. Der Kartoffelkäfer als „biologische“ Waffe?! Im Ersten Weltkrieg dachten die Deutschen, dass die Franzosen mit einer gezielten Vermehrung des Schädlings die Lebensmittelversorgung im Deutschen Reich gefährden wollten. Im Zweiten Weltkrieg beschuldigten sich England und Deutschland gegenseitig über dem jeweiligen Gebiet Kartoffelkäfer abzuwerfen, was jedoch bisher nicht belegt werden konnte. Allerdings kann belegt werden, dass die deutsche Wehrmacht 1943 rund 14.000 Kartoffelkäfer bei Speyer in der Pfalz aus einer Höhe von 8.000 Metern abwarf, um zu überprüfen, ob sie überleben würden. Der Versuch war „erfolgreich“! Während des Kalten Krieges wurde in der DDR gezielt das Gerücht verbreitet, dass die Westmächte Kartoffelkäfer über der DDR abwerfen würden, um die Landwirtschaft zu schwächen und die Lebensmittelversorgung zu gefährden. Belege hierzu sind jedoch in Archiven bisher nicht zu finden. (Quelle: https://www.iva.de/iva-magazin/schule-wissen/kartoffelkaefer-ein-schaedling-mit-geschichte; Abruf am 10.04.2023 um 12.41 Uhr)
Stefan Faßbender für den Geschichtsverein Grevenbroich, 2023