Es ist der 28. Februar 1945. Die Amerikaner rücken vor und beschießen Bedburdyck, Gierath und Stessen, weil sie dort deutsche Truppen vermuten. Der Bedburdycker Pfarrer Walter Schönheit geht den feindlichen Truppen mit einer weißen Fahne entgegen und überzeugt den Kommandeur, das Feuer einzustellen.
Was im Vorfeld geschah: Im fünften Jahr des Zweiten Weltkrieges waren die Alliierten am 6. Juni 1944 im Rahmen der Operation Overlord an der Küste der Normandie gelandet. Im Laufe der folgenden acht Monate kämpften sich die Alliierten in verlustreichen Kämpfen gegen die Überreste der Wehrmacht durch Frankreich und Belgien, hatten den Westwall überwunden und standen nun im Februar 1945 an der Rur.
Am 22. Februar begannen sie die „Operation Grenade“ [„Unternehmen Granate“]. Dies war der Name einer Militäroperation der 9. US-Armee, in deren Verlauf die amerikanischen Truppen erfolgreich die Rur überquerten und bis zum Rhein zwischen Neuss und Rheinberg vorstießen.[i] Bei dieser Militäroperation standen den schätzungsweise 54.000 deutschen Verteidigern mit 180 Panzern rund 381.000 amerikanische Soldaten mit 2.010 Panzern gegenüber.[ii]
Ausschnitt aus einem Report zur Operation Grenade[iii]
Die deutsche 11. Panzerdivision hatte beim Beginn des amerikanischen Großangriffs am 22.2. ihren Divisionsgefechtsstand in Gubberath.[iv]
Ausschnitt aus der militärischen Lagekarte der US-Armee vom 28.2.1945 – Die 2. US-Panzerdivision, die 29. und 30. US-Infanteriedivision halten sich zum Vorstoß auf den Rhein bereit, die 83. US-Inf.Div. fehlt, steht auf dieser Karte noch bei Aachen, nimmt aber tatsächlich am Vorstoß teil.[v]
Ausschnitt aus der militärischen Lagekarte der US-Armee vom 1.3.1945 – Die 2. US-Panzerdivision und 83. US-Infanteriedivision stoßen am 28.2.1945 über Bedburdyck nach Nordosten vor.[vi]
In den folgenden Tagen stießen die 5. US-Panzerarmee mit der 102. US-Infanteriedivision im westlichen Frontabschnitt bis nach Erkelenz vor, während der Vormarsch der 29. und 30. US-Infanteriedivision bei Titz ins Stocken geriet. Daraufhin wurde die 2. US-Panzerarmee aus dem Raum Aachen und die 83. US-Infanteriedivision aus der Gegend von Lüttich zur Unterstützung angefordert.
Während nun das 116. Infanterieregiment der 29. US-Infanteriedivision von Jülich kommend über Welldorf, Serrest, Güsten, Immerath, Lützerath und Pesch das heutige Jüchener Stadtgebiet erreichte und über Spenrath, Hochneukirch, Hackhausen und Mongshof nach Sasserath weiterzog[vii], sicherte die 30. US-Infanteriedivision, die Garzweiler und Königshoven eingenommen hatte, zwischen Jülich und Jüchen die rechte Flanke zur Erft hin ab. Die Truppen der 2. US-Panzerdivision beabsichtigten durch Jüchen, Gierath und Bedburdyck in nordöstliche Richtung vorzurücken. Die 83. Infanteriedivision zog über Garzweiler, Elfgen und Elsen und stand gegen 16 Uhr entlang der Bahnlinie, um Gierath, Stessen und Bedburdyck von deutschen Truppen zu säubern.
Die Amerikaner gingen davon aus, dass sich deutsche Truppen in den Dörfern verschanzt hatten, denn aufgrund der Luftaufklärung wusste man, dass die Deutschen ab Herbst 1944 in dem Gebiet Verteidigungsanlagen errichtet hatten. Sie hatten drei Linien geschaffen. Die erste Verteidigungslinie war am Ostufer der Rur, die zweite sechs und die dritte elf Kilometer dahinter. Die dritte Linie war mit der Erft verbunden, die sogenannte Erft-Stellung. Im Wesentlichen waren es Schützengräben bzw. -wälle in einem Zickzackmuster mit Ausgängen an den Dörfern und Städten. Die Amerikaner hielten das Verteidigungsnetzwerk für gut geplant und organisiert und mussten daher davon ausgehen, dass der Bereich zwischen dem südlichen Rand der heutigen Stadt Mönchengladbach und der Erft bei Grevenbroich in den Dörfern ebenfalls gut gesichert war. Alle Anzeichen deuteten aber darauf hin, dass die Wehrmacht viel zu wenig Truppen hatte, um die Linien bemannen zu können. Das stützte die Annahme, dass die Verteidigung sich auf Schwerpunkte in Städten und Dörfern konzentrieren würde.[viii]
Darstellung über ungefähre Truppenbewegungen und Angriff der Amerikaner auf Gierath, Bedburdyck und Stessen.[ix]
Von den amerikanischen Einheiten, die vom Jüchener Hahnerhof in Richtung der „Hohen Eiche“ in Gubberath fuhren, wurde bei der „Hohen Eiche“ ein Panzer von deutschen Truppenresten abgeschossen. Daraufhin eröffneten die Amerikaner das Feuer auf Gierath, Bedburdyck und Stessen.
Aus Bedburdyck berichtet der Chronist der Bedburdycker Schulchronik, Robert Lingen „Die Front rückt näher. Aus dem Roertale ist zeitweise Geschützdonner zu hören. Die Spannung ist groß und aufregend. Evakuierungsmaßnahmen sind im Gange. Das ganze Gebiet (Kreis) soll ins bergische Land. Doch von Seiten des Amtes und der Schule wird die Bevölkerung im Stillen aufgeklärt und ihr anheimgegeben, hier zu bleiben und alles über sich ergehen zu lassen. Die feindliche Front wird schnell über unser Gebiet gehen, da hierselbst kein Widerstand ist und auch nicht unternommen wird, und zum Rheine eilen. Die Bevölkerung ist standhaft. Niemand verläßt die Heimat. Alle halten aus und harren der Dinge, die nun kommen werden.“
US-Panzer des 67. Panzerregiments (l.) und das 41. Gepanzerte Infanterie Bataillon (r.) der 2. US-Panzerdivision in Priesterath auf dem Weg nach Jüchen (28.2.1945) [x]
US-Truppen und die auf dem Jüchener Markt zusammengetriebene Jüchener Bevölkerung (28.2.1945) [xi]
Weiter heißt es: „Am 28. Februar gegen Mittag bei herrlichem Wetter rückt der feindliche Geschützdonner recht nahe heran. Es wird verlautet, daß amerik. Truppen vor Jüchen seien. Ich spähe draußen aus und sehe nach kurzer Zeit einige unserer Truppen in verschiedenen Abständen (darunter einer an der Hand verwundet) an den Häusern vorbeischleichen. Nach Erkundigungen bei ihnen erfahre ich, daß amerik. Panzer vor Jüchen auffahren. Kurz danach vernimmt man schon deutlich Einschläge. Auf der Straße treffe ich Heister Adam und Broich Josef und beschließen wir die weiße Fahne auf dem Kirchturm zu zeigen. Hompesch Jean schließt sich uns an. Wir gehen zum Pfarrhaus und machen den Herrn Pastor auf die nahen Gefahren aufmerksam. Er ist sofort entschlossen, die Fahne zu zeigen und steigt selbst mit zum Turm hinauf. Kurz vorher erfolgte ein Einschlag in den Turm und ein Einschlag auf Wolffs Feldscheune, die sofort lichterloh niederbrannte. Einige Treffer waren zur gleichen Zeit erfolgt bei Spielhagen, Theodor Broich (Hotel) und in der Kaplanei.“[xii]
Die Amerikaner beschossen zunächst exponierte Punkte in Gierath, Bedburdyck und Stessen, an denen sie feindliche Truppen glaubten. Dazu gehörte der Bedburdycker Kirchturm, die errichteten Panzersperren an den Ortseingängen, vermutete Standorte von Flak-Geschützen sowie einzelnstehende Gebäude, wie unter anderem die evangelische Schule in Gierath, die Stessener Mühle und zwei Häuser außerhalb der Ortsbebauung jeweils an der Gierather und Grevenbroicher Straße in Bedburdyck. Durch den Beschuss kamen in Stessen auf der Kreuzstraße zwei Zivilisten ums Leben.
Darstellung über ungefähre Truppenbewegungen bis Pfarrer Schönheit den amerikanischen Truppen entgegenging.[xiii]
Die Bedburdycker Schulchronik berichtet hierzu: „Nachdem die weiße Fahne wehte, hörte der Geschützdonner auf. Herr Pastor ging danach mit einer weißen Fahne in Richtung der amerik. Panzerstellung und erklärte dem führenden Offizier, daß hierselbst keine Truppen lägen u. die letzten heute früh in Richtung Neuß hinter den Rhein marschiert seien. Die Häuser u. Bunker zeigten alle die weiße Fahne. Auf das Schulgebäude habe ich [Lehrer Lingen] selber [eine Fahne] gehißt. Gegen Abend rollen die Panzer unaufhörlich durch unser Dorf [Bedburdyck] in Richtung Aldenhoven.“[xiv]
Einer mündlichen Überlieferung zufolge sollen die Amerikaner Pastor Schönheit mit der weißen Fahne auf den ersten Panzer gesetzt und gedroht haben, den Ort dem Boden gleich zu machen, sollte nur ein Schuss fallen.
Pfarrer Walter Schönheit[xv]
Pfarrer Schönheit war am Tag vor dem amerikanischen Einmarsch 60 Jahre alt geworden.
Schönheit wurde am 27. Februar 1885 in Wesel geboren und verstarb am 11. Januar 1953 in Essen-Werden. Begraben wurde er auf seinen eigenen Wunsch hin in Bedburdyck. Sein Grab befindet sich inmitten eines Rondells mit Ehrengräbern gefallener Soldaten.
Wegen des Einsatzes von Pfarrer Schönheit zur Rettung der Dörfer Bedburdyck, Gierath und Stessen beim Einmarsch der Amerikaner benannte man in Bedburdyck eine Straße nach ihm, und in Gierath wurde nach dem Krieg ihm zu Ehren eine Gedenkplatte am Kriegerdenkmal eingeweiht – wenn auch mit dem vermutlich fehlerhaften Datum 27. Februar.
[i] https://de.wikipedia.org/wiki/Operation_Grenade (31.3.2020, 19.19 Uhr)
[ii] https://en.wikipedia.org/wiki/Operation_Grenade (30.6.2020, 19.30 Uhr)
[iii] Armor in Operation Grenade (2d Armd Div), A search report, prepared at THE ARMORED SCHOOL Fort Knox Kentucky, 1949-1950
[iv] Weiss, Westfront `45, 11. Panzer-Division, Zwischen Roer und Rhein, 2013, S. 22
[v] www.loc.gov/resource/g5701sm.gct00021/?sp=269&r=0.557,0.176,0.156,0.078,0 22.10.2021, 19.13 Uhr)
[vi] www.loc.gov/resource/g5701sm.gct00021/?sp=269&r=0.557,0.176,0.156,0.078,0 22.10.2021, 19.13 Uhr)
[vii] 29 Let’s Go!: A History of the 29th Infantry Division in World War II, 1986; http://www.lonesentry.com/gi_stories_booklets/29thinfantry/index.html (25.2.2023, 14.29 Uhr)
[viii] https://de.wikipedia.org/wiki/Operation_Grenade (20.10.2021, 19.44 Uhr)
[ix] Tim-Online, graphische Darstellung Michael Salmann
[x] Facebook: 2nd Armored Ordnance Maintenance Battalion (20.9.2021, 20.36 Uhr)
[xi] Armor in Operation Grenade (2d Armd Div), A search report, prepared at THE ARMORED SCHOOL Fort Knox Kentucky, 1949-1950
[xii] Stadtarchiv Jüchen, Bedburdycker Schulchronik
[xiii] Tim-Online, graphische Darstellung Michael Salmann
[xiv] Stadtarchiv Jüchen, Bedburdycker Schulchronik
[xv] Digitale Sammlung, Salmann
Wieder eine tolle Recherche und viel Arbeit. Danke Stefan.
Hallo Rolf. Der Dank gebührt Michael Salmann! Ich habe lediglich seine Recherche für die Webseite umgesetzt!